1. TRF: Zur Verortung des Roman
The Reluctant Fundamentalist (TRF), 2007 veröffentlicht, ist ein schmaler Roman, der in seiner Erstveröffentlichung um die 200 Seiten lang ist. In einer – an der mainstream-Literatur gemessen – erzählerisch unkonventionellen Art greift der Roman Themen auf, die seit 9/11, kontrovers diskutiert, die Weltöffentlichkeit beschäftigen. Hamid ist pakistanischer Herkunft und hatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines zweiten Romans mehr oder weniger die Hälfte seines Lebens in den USA zugebracht. Seinen Protagonisten, Changez, lässt er im Eröffnungskapitel sagen, er sei a lover of America.
Von der Struktur her ist Hamids Roman interaktiv angelegt. In Interviews betonte er, dass es ihm bei TRF darauf angekommen sei, Leserinnen und Lesern zu Co-AutorInnen zu machen.
Hierum geht es. Da treffen in Lahore/Pakistan in einem Straßencafé im Old Anarkali Bazaar zwei Menschen aufeinander, die an diesem Ort und zu dieser Zeit – es ist kurz nach 9/11 (2001) – dort im realen Leben vermutlich nie aufeinander getroffen wären. Old Anarkali war zu der Zeit ein Stadtteil Lahores, der für Touristen als no-go-area galt. Ein Pakistani in traditionellem Outfit, Bart inklusive, nähert sich einem Fremden, der – mit dem Rücken zur Wand – in einem Straßencafé dasitzt und für ihn alle Anzeichen eines “Amerikaners in besonderer Mission” aufweist: kurzer Haarschnitt, athletische Figur, eine verdächtig gewölbte Stelle im Jackett. Changez, Hamids Erzähler und Protagonist, gelingt es, den “Fremden” für die Dauer eines langen Abends in ein Gespräch zu verwickeln, dem sich jener nicht zu entziehen weiß oder vielleicht auch nicht will. Das Gespräch droht zu eskalieren. Gegen Mitternacht begleitet Changez den vermutlichen Amerikaner zurück zum Hotel, in dem sich jener eingecheckt hatte. Die beiden werden verfolgt. Ende offen.
Der Roman wurde zum internationalen Bestseller.
2. Literatur, Literaturunterricht und das Konzept einer “interkulturellen Kommunikationskompetenz”
Hamids Roman ist in viele Sprachen übersetzt worden und hat weltweit Eingang in literarische Curricula gefunden. Deutsche Lehrmittelgroßverlage haben sich des Titels angenommen und Lehrerhandreichungen – rushing into print – auf den Markt gebracht.
Eine schnelle Durchsicht einiger dieser Handreichungen zeigt, dass sie mit Blick auf das spezifische Anliegen des fortgschrittenen Englischunterrichts, die Förderung einer “interkulturellen Kommunikationsfähigkeit” auf der Basis eines besonderen Textformats, eines literarischen Textes, nicht konkret genug eingehen. Um beim Gegenstand anzufangen: “Belletristische” Literatur erfordert eine andere Zugangsweise als nicht-literarische Texte (vgl. Blog), und was konkret mit „interkultureller Kommunikationskompetenz“ jeweils gemeint sei soll, wird in auch nicht klar.
Dazu direkt: Das Konzept der „Interkultureller Kommunikationskompetenz“ lässt sich minimalistisch oder maximalistisch interpretieren, mit vielen Varianten dazwischen. In der minimalistischen Version geht es darum, die in einem literarischen Text erwähnten Textbezüge mit Zusatzinformationen zu unterlegen. Beispiel: Die Rahmenhandlung von TRF spielt in Lahore/Pakistan und hier in einem Straßencafé in Old Anarkali. Wo ist Pakistan und wo Lahore? Wie muss man sich Old Anarkali vorstellen? Später reist Changez nach Manila und dann nach Valparaiso/Chile. Eine minimalistische Interpretation der Idee einer interkulturellen Kommunikationskompetenz gibt sich mit Informationen zu den settings zufrieden.
In der maximalistischen Variante sind diese landeskundlichen Informationen zwar auch wichtig und werden auch einbezogen: Es geht jedoch hier um mehr, letztendlich um Werte, die bei der Konzeption und Ausgestaltung von Unterrichtsszenarien, Lernarrangements, Aktions- , Sozial- und Ausdrucksformen vorausgehen. Verknappt formuliert: Es geht darum, Respekt und Achtung vor dem kulturell Anderen zu entwickeln, um ein Verständnis, das das eigene Werteverhalten herausfordert. Das bedeutet nicht zwangsläufig Zustimmung, wohl aber könnte dadurch eine Basis geschaffen werden, die es KursteilnehmerInnen jenseits von Schule erleichtern kann, zu einer Kompromißbereitschaft zu finden.
3. TRF: Sinnvolle Unterrichtsgespräche führen
VIEW IMAGE | VISIT PAGE
Unter sinnvollen Unterrichtsgesprächen werden hier solche verstanden, die schwerpunktmäßig und anteilsadäquat die diversen Ebenen des fortgeschrittenen Englischunterrichts berücksichtigen. Dazu gehört eine Vertiefung der sprachpraktischen Mittel, sowohl im rezeptiven wie im produktiven Bereich, aber auch und besonders die aufmerksame Zuwendung zum literarischen Format, das zur Entschlüsselung der Potentiale , die in ihm stecken, eines besonderen Blicks bedürfen. Gemeint sind aber auch und vor allem Gespräche, die jenseits eines spezifischen literarischen Textes den Blick sensibel frei machen für das, was es bedeutet, die Chance zu haben, in eine andere Kultur „eintreten“ zu können. Hier eine Liste von 12 Themen zu TRF, die sich als Leitgedanken für die Gestaltung eines literaturbasierten Englischunterrichts anbieten.
1. The Reluctant Fundamentalist: Der Titel als Motiv
The Reluctant Fundamentalist – in deutschen Übersetzungen als „Der Fundamentalist, der keiner sein wollte“ widergegeben (korrekter würde man “Fundamentalist wider Willen” sagen) – “spielt” mit gängigen mainstream-Assoziationen und Konnotationen. Sie lassen zunächst ein islam(istisch)es Bedeutungsumfeld vermuten. Aber Changez, Hamids Erzählfigur und Protagonist, ist kein “Fundamentalist” im religiösen mainstream-Verständnis. Aus kulturexterner Sicht würde man ihn als liberalen Muslim bezeichnen. Dafür spricht sein genuines Interesse an den USA und amerikanischen Verhaltensweisen, die er schätzte und von denen er vor 9/11 in gewisser Weise auch profitierte. Dafür spricht aber auch sein unangestrengtes und unaggressives Verhältnis zu Verhaltensweisen, denen er sich bisweilen konfrontiert sah. Ein paar Beispiele: Wenn es die Situation erfordert, trinkt Changez auch mal Alkohol. Er hat eine amerikanische Freundin, Erica, und er reagiert gelassen auf die herablassenden Äußerungen über sein Heimatland Pakistan, die ihm vom Vater Ericas, durch wertekonservative Überzeugungen geprägt, entgegengehalten werden.
Aber sehr schnell ändert sich dieses Bezugssystem. Nach einer filmreifen Aufstiegskarriere in US-Amerika bekommt Changez die Chance, für eine international operierende Consulting-Firma zu arbeiten. Deren Motto ist: “Back to the Fundamentals”. Darunter versteht das Unternehmen eine Verschlankung maroder Unternehmen mit dem Ziel, sie markteffektiver zu machen. Changez reist im Auftrag von Underwood & Samson rund um den Globus, um solche maroden Betriebe zu “sanieren”. Am Anfang empfindet er seine berufliche “Mission” als persönlichen Erfolg. Im Nachhinein empfindet er sich als „Fundamentalist wider Willen.“ Das wurde ihm deutlich klar, als er bei seinem Chile-Auftrag auf Juan Bautista trifft, der ihm die Geschichte der janissaries erzählte.
Nach einer Selbstentdeckungsphase entschließt sich Changez, nach Pakistan zurückzukehren. Dort wird er wiederum zum reluctant fundamentalist; diesmal, weil er aufgrund seiner Dozententätigkeit an einer lokalen Universität nicht nur von den örtlichen Behörden, sondern auch von internationalen Presse mit terroristischen Anschlägen in Verbindung gebracht wird, weil einer seiner Studenten involviert zu sein schien. Das wird die Grundfrage sein müssen, die es zu kären gibt. Ist Changez ein reluctant fundamentalist? Wenn ja, in welchem Verständnis? Und – um es mit einer Standardfrage zu formulieren – „Was sagt uns das?“
2. The nameless stranger without a voice: Zur Ausformung des “dramatischen Monologs”
Monologe kennt man aus der Dramatik. (Shakespeare: “To be or not to be … “) Sie werfen ein Licht auf die Befindlichkeiten der Figur, die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Sie sind auch aus der neueren Erzählliteratur in Form des stream-of-consciousness bekannt. (James Joyce, Ulysses). Der “dramatische Monolog”, wie ihn Hamid verwendet, ist in der Erzählliteratur eher unüblich, wenngleich es auch da Vorgänger gibt. (Albert Camus, La chute, 1956) Ähnlich wie bei Camus erzählt Changez seine Geschichte in Form eines Monologs, der dem Gegenüber, dem silent listener, die eigene Stimme versagt. Changez redet non-stop auf ihn ein. Gelegentlich erfährt das Lesepublikum, wie der vermutliche „Amerikaner“ auf Changez‘ Geschichten reagiert hatte. Aber nur mittelbar, wiedergegeben und kommentiert durch die Sicht Changez‘. Die Frage, die sich hier stellt, ist die: Weshalb wählt Changez diese Erzählstrategie? Beim Versuch, eine Erklärung zu finden, stößt man sehr schnell auf die Medienlandschaft der Zeit. Die Medienkommunikation war einseitig. Theoretisch gab es zwar in den USA unabhängige Berichterstattungen (z.B. Democracy Now, 1996 von den investigativen Journalisten Amy Goodman und Juan Gonzales gegründet) , aber sie hatten noch nicht die Reichweite, die ihnen heute zukommt. Aljazeera Media, wie immer man zu diesem Sender steht, begann seine publizistische Arbeit erst 2006.
Ein Gespräch über die Wahl eines literarischen Ausdrucksmittel kann, kontextualisiert, historisiert und aktualisiert Auslöser für viele belangvollen Unterrichtsgespräche sein.
3. The Rearview Mirror Perspective: Nach vorne schauen, aber dennoch immer im Auge behalten, was sich im Rückspiegel abspielt.
In der Binnengeschichte gibt Changez dem silent listener viele Details über sein bisheriges Leben preis. Es ist ein Stückweit der Versuch einer Autobiographie, und wie in allen Autobiographien ist das, was erzählt wird, durch den gegenwärtigen Moment gesprägt. Changez lebt zwischenzeitlich in Pakistan und blickt auf sein Leben in den USA zurück. Aber es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Um in Ruhe leben zu können, muss er sich vieler Anschuldigungen erwehren. Es ist eine komplexe Erzählsituation, die man über eine grafische Darstellung illustrieren könnte. Die gewählte Analogie des Rückspiegels ist inspiriert vom Titel eines Songs von 1994 mit dem Titel “Objects in the Rear View Mirror May Appear Closer than They Are”, der angelehnt ist an eine Sicherheitswarnung, die in den 1990er Jahren im Zusammenhang mit Seitenspiegeln an Autos bekannt war. Da hieß es, dass man bedenken sollte, dass das, was im Rückspiegel zu sehen ist, näher sein kann als man vermutet.
Ein Gespräch über die Details der Erzählstrategie in TRF könnte Schülerinnen und Schülern des fortgeführten fremdsprachlichen Literaturunterrichts dazu ermutigen, Gefallen zu finden an Literatur (als einer bedeutsamen Form kultureller Praxis) und ihren vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten.
4. I felt like in a movie, in which I was the star: Eine ImmigrantInnenstory in reverse.
Traditionelle ImmigrantInnenstories, dokumentarisch oder fiktiv, als Literatur oder Film, folgen einem eingewöhnten Schema. Da geht es in der Regel um schwierige Ausgangsvoraussetzungen im Heimatland und um die enormen Risiken, die ImmigrantInnen auf sich nehmen mussten, um in das Land zu kommen, von dem sie sich bessere Daseinsbedingungen erhofften. Einmal dort unter Strapazen angelangt, ging darum, im Land der Sehnsucht zurechtzukommen. Nicht so in Hamids Erzählung. Changez, Hamids Kunstfigur, teilt all‘ diese Merkmale nicht. Er stammt aus einer angesehenen Familie in Pakistan, die sich zwar den traditionell bequemen Lebensstil aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen nicht mehr leisten kann: Dennoch lebt seine Familie nicht in prekären Verhältnissen. Er entscheidet sich, in die USA zu gehen, weil er sich und seiner Familie beweisen möchte, dass er aufgrund seiner Motivation und seinen Qualifikationen es dort zu finanziellem Erfolg bringen kann, der dann seiner Familie zugute käme. Auch als es ihm gelang, in die USA zu kommen, hatte er es dort mit keinen nennenswerten Hindernissen zu tun. Im Gegenteil: Er studierte an einer der angesehendsten Universitäten, machte einen glänzenden Universitätsabschluss, seine Bewerbung bei einem angesehenen Wirtschaftsunternehmen verlief erfolgreich, und er erwies sich nach seiner Anstellung als kompetenter Mitarbeiter, dem seine Chefs vertrauten. Selbst als es, nach 9/11, für Minderheiten, die sich durch ihre Physiognomie und Hautfarbe vom mainstream zu unterscheiden schienen, schwieriger wurde, war Changez nicht wesentlich betroffen: Bei der Wiedereinreise von seinen Business-Trips in die USA musste er sich zwar auf längere Befragungen einstellen, und gelegentlich gab es auch in Tiefgaragen durchstochene Reifen und mitunter auch rassistischer Bemerkungen, die er nicht irnorieren konnte: Existenzgefährdend waren diese Veränderungen jedoch nicht. Gleichwohl entscheidet sich Changez, permanent nach Pakistan zurückzukehren.
“I felt like in a movie in which I was the star” ist ein Zitat, das Changez selbst mit Bezug auf den ersten Teil seiner Erfolgsgeschichte in den USA in die Diskussion brachte. Der Text ist von Mira Nair mit Riz Ahmed, Kate Hudson verfilmt worden, hat aber einen anderen Schwerpunkt. Wie könnte ein Film aussehen, der die Geschichte des Changez aus seinem Blickwinkel verfolgt. Wie könnte das Schlussbild aussehen?
5. Understanding the Smile: Changez’ Business-Trip nach Manila
Als Hamids Roman 2007 erstveröffentlicht wurde, war es die Schlüsselszene des Romans, an der sich die Geister der RezensentInnen unterschieden, die Episode, in der Changez, im Auftrag seines Arbeitgebers in Manila auf den Philippinen unterwegs, kurz vor seinem Rückflug in die USA noch einmal in seinem Hotelzimmer den Fernseher anschaltete, da die Bilder der in sich zusammenstürzenden Twin-Towers sah und unwillkürlich lächeln musste. Erst ging er davon aus, dass es sich um einen Hollywoodfilm der üblichen Manier handelte, dann aber begriff er, dass es sich um faktische Realität handelte. Zunächst sei er, erzählt der dem Fremden, von Skrupeln geplagt gewesen angesichts seiner Reaktion auf das ungeheuerliche Ereignis. Später fand er Erklärungen. Als erim Vorfeld in Manila, vom Flughafen abgeholt, in einer amerikanischen Limousine zum Ort seines Einsatzes gefahren wurde, glaubte er, an einem Verkehrsstopp die feindlichen Blicke eines Jeepney-Fahrers zu spüren. Er erinnerte sich an den Rhodos-Urlaub, die Spendierlust seiner Kommilitonen, ihre Arroganz gegenüber den Einheimischen in Griechenland. Das waren nur einige der Irritationen, die er jedoch zunächst beiseite schob.
6. Juan Bautista, Changez und die Geschichte der Janissaries
Das spätere Gespräch mit Juan Bautista in Valparaiso/Chile brachte letztendlich die Kehrtwende. Juan Bautista, verantwortlich für den literarischen Sektor des dortigen Verlagsgeschäfts, zwischenzeitlich ein alter Mann, aber immer noch weltoffen und in seinem Fach versiert, beeindruckt Changez u.a. mit seiner Kenntnis urdischer Lyrik, die Changez vertraut war und gewann damit sein Vertrauen. Er war es auch, der ihm den Hinweis gab, das Haus des chilenischen Nationaldichters und Nobelpreisträgers Pablo Neruda, zwischenzeitlich ein Museum, zu besuchen. Vor allem aber erzählte Juan Bautista Changez von den janissaries. Hier ein Auszug aus dem Text:
“Does it trouble you,” he (Juan Bautista) inquired, “to make your living by disrupting the lives of others?” “We just value,” I replied. “We do not decide whether to buy or to sell, or indeed what happens to a company after we have valued it.” He nodded; he lit a cigarette and took a sip from his glass of wine. Then he asked, “Have you heard of the janissaries?” “No,” I said. “They were Christian boys,” he explained, “captured by the Ottomans and trained to be soldiers in a Muslim army, at that time the greatest army in the world. They were ferocious and utterly loyal: they had fought to erase their own civilisation, so they had nothing else to turn to.” Die Geschichte der janissaries ließ Changez nicht mehr los: War er, Changez, ein modern-day janissary?
Eine interessante Parallele, die sich in einem kooperativen Szenario spannend diskutieren lässt.
7. “One Day, I want to be a dictator of an Islamic state with a nuclear capability”: Zum Pakistanbild in TRF
Das Zitat stammt aus der Rhodos-Episode. Jede/r der KommilitonInnen sollte sagen, wie er/sie sich die Zukunft vorstelle. Als die Reihe an Changez kam, antwortete er im Spaß: „One day I want to be a dictator of an Islamic state with a nuclear capability.“ Nur seine Freundin Erica schien den Scherz verstanden zu haben. In der äußeren Handlung ist vom modernen Pakistan die Rede, oder – besser – Pakistan aus der Sicht Lahores. Da geht es nicht um den islamischen Staat, sein nukleares Potential, um politische Strukturen, sondern – ausgehend von zufälligen Szenen in Old Anarkali – um eine Sicht Pakistans, die sich von jenen Bild Pakistans unterscheidet, das in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends über die mainstream-Medien das Bewusstsein vieler prägte. Changez wies seinen silent listener auf die jungen Mädchen hin, die westlich gekleidet, offenbar Studentinnen, die für ihn Symbol eines fortschrittlichen Pakistan waren. Ein Bettler kam an ihren Tisch. Changez gab ihm Geld und kommentierte sein Verhalten mit dem Hinweis, dass dies zwar amerikanischen Praxen widerspräche, dass seinem Verhalten jedoch eine Sozialtheorie zugrunde liege: Es gäbe eine Tradition, dass diejenigen, die bequemer lebten und es sich leisten konnten, etwas an Bedürftige weitergaben.
In einem Unterrichtsgespräch, das an in TRF vermittelte Pakistansbild anknüpft, könnte der Frage nachgangen werden, welches Pakistanbild heute in unseren Köpfen besteht, woher es stammt und weshalb es so ausfällt, wie es ausfällt; diese Frage ist insofern wichtig verfolgt zu werden, als wir zunächst davon ausgehen, dass die journalistische Berichterstattung durch ihr Berufsethos der ausgewogenen Darstellung verpflichtet ist.
8. The (Un-)Reliable Narrator: Ist Changez‘ Darstellung seiner gegenwärtigen Situation glaubhaft?
Gegen Ende des Abends erzählt Changez‘ dem Fremden von seiner aktuellen Lebenssituation. Er ist Dozent an einer lokalen Universität, lehrt da Finanzen, was er beherrscht, auch und aufgrund seiner Erfahrungen im US-amerikanischen Wirtschaftssektor. Er habe jedoch den Unwillen pakistanischer Sicherheitsbehörden auf sich gezogen, weil er Lehrer eines Studenten gewesen sei, der zu Unrecht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation beschuldigt wurde. Er selbst wäre von der Unschuld des Studenten überzeugt. Zudem lehne er jede Form aggressiver Gewalt zur Durchsetzung politischer Forderungen ab. Sind Changez‘ Ausführungen glaubhaft?
Das Repertoire literarischer Gestaltungsmittel kennt die Instanz des unverlässlichen Erzählers. Ein unreliable narrator ist ein Erzähler, der bewusst provozierend seine Leserschaft täuscht. Die Glaubhaftigkeit von Aussagen zu bewerten, ist eine Fähigkeit/Fertigkeit, die besonders auch in nicht-fiktionalen Kontexten gefordert ist, angefangen im persönlichen Bereich, wenn es darum geht, Geschichten einzuschätzen, die uns Freunde und Bekannte erzählen bis hin zu Situationen im öffentlichen Bereich, etwa wenn es in der Strafjustiz darum geht, Aussagen von TäterInnen oder ZeugInnen in einem Straffall zu begutachten.
Es gibt bei der professionellen Textanalyse Kriterien, an denen die Glaubhaftigkeit von Aussagen überprüft werden kann. Es gibt da zwar keine vollständige Sicherheit, wohl aber Vermutungen. Auf TRF bezogen: Changez springt für die Unschuld seines Studenten in den Bresche, aber er war nicht am Ort des Geschehens, hat sich mit ihm nicht austauscht. Kann man daher seine Sicht als bare Münze werten? Relevant bei der Glaubhaftigkeitsprüfung ist z.B. auch die interne Logik der Argumentation. Changez versucht, seinem Gegenüber zu erklären, dass er strikt gegen aggressive Gewalt als Lösungsmöglichkeit für politische Konflikte sei. Sind seine Ausführungen konsistent? Könnten wir es hier literarisch mit einem unreliable narrator zu tun haben?
Unreliable narrators sind in literarischen Fiktionen vergleichsweise selten, verglichen mit ihrer Häufigkeit in in non-literarischen Kontexten.
9. The Abrupt Ending: Teil der Erzählstrategie
Das abrupte Ende hat viele mainstream-LeserInnen verschreckt. Aber es ist Teil der Erzählstrategie. Hamid zufolge handelt es sich um einen „interaktiven“ Roman, in dem es darum geht, LeserInnen für Themen zu interessieren, die kontrovers diskutiert wurden. Er will keine Stellung beziehen: Deshalb von Anfang an das Prinzip der Ambiguität.
Die mainstream-Vorstellung von einer Erzählung hat einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Das muss sich nicht immer in dieser chronologischen Reihenfolge abspielen. In TRF wird die Erzählung nicht zuende erzählt. In der Theorie der Kurzgeschichte würde man von einer pre-closure sprechen: Die Erzählung reißt kurz vor dem Ende ab: Es bleibt den LeserInnen vorbehalten, als Co-AutorInnen nach den Spuren, die in den vorhergegangenen Passagen gelegt werden, eine eigene Version des Endes zu finden. Man mag diese Erzählstrategie mögen oder nicht mögen: Auf jeden Fall sorgt sie für Gesprächsstoff. Sie hilft, die eigenen Vorurteile literarischer Arbeiten gegenüber zu hinterfragen und macht deutlich, wie breit das Repertoire literarischer Mittel sein kann.
10. Giving an End to the Story: Eine Debatte um unterschiedliche Endvariationen
Das „unvollkommene Ende“ (pre-closure) des Romans ist für Leserinnen und Leser, die den Appell Hamids annehmen, verführerisch. Welche Fährten legt Hamid und wie würde die Geschichte ausgehen, wenn das eine oder aber das andere Set an Indizien den Ausschlag gäbe. „Hätte, hätte, Fahrradkette“ ist zwar (2013) zu einem geflügelten PolitkerInnenspruch geworden: Mit Blick auf fiktionale Literatur macht die Frage und das Durchspielen unterschiedlicher Möglichkeiten durchaus Sinn. Denn: Im Gegensatz zur realgeschichtlichen Welt haben wir es in fiktionaler Literatur mit einer gestalteten Romanwelt zu tun.
11. The Silent Stranger: Dem stillen Zuhörer eine Stimme geben
Changez‘ deutet in seinem non-stop-Monolog an, wie der „Fremde“ reagierte. Daraus ließe sich – als post-reading-Übung – ein Interview gestalten. Zum Szenario: Nach erfolgreicher Beilegung des Falles befragt ein Redakteur oder eine Redakteurin den damaligen „Fremden“ zu den Reaktionen, die er damals hatte, als er von Changez buchstäblich an die Wand geredet wurde. Was ging ihm durch den Kopf, als sich Changez ihm aufdringlich als guide für Old Anarkali anempfahl? Was empfand er bei den vielen kritischen Äußerungen über die USA nach 9/11? Weshalb hat er sich nicht höflich verabschiedet? Welche Befürchtungen hatte er, als Changez ihn zu seinem Hotel begleitete und er die vielen Geräusche wahrnahm, die Bedrohliches vermuten ließen?
12. Talking about a New Edition of TRF
TRF hat auch fast 10 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung nichts an Aktualität verloren. Viele der im Roman angesprochenen Themen sind heute in der mainstream-Öffentlichkeit in ihrer Brisanz deutlicher geworden. In einem abschließenden Gesprächs könnte es darum gehen, Rahmenbedingungen für eine neue didaktische Textausgabe zu diskutieren. Dazu würde gehören: ein Front- und Backcover zu entwerfen (Grafik, Co-Texte), aber auch sich zu überlegen, was in einer Introduction stehen könnte, welche Zusatztexte ggf im Anhang abgedruckt werden könnten oder sollten, etc.
4. Die Kunst der Unterrichtsgestaltung: Szenarien, Lernarrangements, Aktions-, Sozial- und Ausdrucksformen
In den letzten Dekaden hat ein Wandel im pädagogischen Denken stattgefunden, weg von Pflicht- und Akzeptanzwerten und hin zu Möglichkeiten der Selbsterfahrung im Umgang mit einem Thema und der Einbringung eigener Vorab-Potenziale. Bei der Planung von Unterrichtsszenarien, Lernarrangements, Aktions- und Ausdrucksformen wird es in jedem Fall darum gehen müssen, für heterogene Lerngruppen, mit denen wir Lehrende es heute zu tun haben, Lernräume zur Verfügung zu stellen, in denen sich Lernende mit unterschiedlichen Interessen und unterschiedlichen Lernpräferenzen wiederfinden können. Lernervariablilität ist heute in der mainstream-Didaktik die Regel, nicht mehr die Ausnahme. Lernangebote, die unterschiedlichen Lernerprofilen entgegenkommen, helfen letztendlich allen.
Partnerarbeit, Gruppenarbeit, der Austausch von Arbeitsergebnissen unterschiedlicher Gruppen vor einer Präsentation in class ist gut und gilt zu fördern, sollte jedoch nicht überstrapaziert werden. Wichtig ist ein Mix, in dem der traditionelle, zum Teil begründet diskrimimierte Frontalunterricht durchaus auch seine Bedeutung haben kann. Ich könnte mir vorstellen, dass hier und da KursteilnehmerInnen es begrüßen, sich auch einmal zurücklehnen und nur hören und Informationen aufnehmen dürfen; dies auch und besonders mit Blick auf Informationen, die sie selbst – Smartforne oder Tablett zurhand, nicht recherchieren können. Dies muss nicht unbedingt aus autorisierter Sicht stattfinden. Auch der Frontalunterricht kann im Sinne des kooperativen Unterrichts variert werden, z.B. durch Schülerreferate.
5. Kontextualisieren, historisieren, aktualisieren
Um auf das Kernlernziel des Fremdsprachenunterrichts in der sekundaren Oberstufe zurückzukommen, die interkulturelle Kommunikationskompetenz, dies mit besonderem Blick auf literarische Texte als Basismaterial für die Gestaltung eines relevanten Lernraums. In fiktionalen Texten geht es inhaltlich um allgemeine Themen, die jedoch in orts-, zeit- und kulturgebundenen Kontexten gestaltet werden.
Hamids Roman, 2007 veröffentlicht, früher entstanden, ist aus der Perspektive eines Erzählers pakistanischer Herkunft geschrieben, der in den USA der frühen Jahren des neuen Jahrtausend auf eine erfolgreiche Karriere bei einer angesehenen Consulting Agentur zurückblicken konnte und nach 9/11 im Vergleich nur mäßig von den Veränderungen betroffen war, die in der Folge stattfanden. Vieles ist zwischenzeitlich anders oder differenzierter geworden. Z.B. die Medienlandschaft, die Rolle der USA im globalen geopolitischen Zusammenhang, terroristische Gefährdungen, um nur einige zu nennen. Daher gilt es, mit Blick auf methodische Entscheidungen die Forderungen einer interkulturell belangvollen Pädagogik (kontextualisieren, historisieren, aktualisieren) zu beherzigen.
Das bedeutet einen Bruch mit bisherigen Praxen des Englischunterrichts. In den vorhergegangenen Stufen, von der Primarstufe angefangen und in der ersten Sekundarstufe fortgeführt, wurden literarische Texte – legitim – für sprachpraktische Intentionen genutzt. In der Primarstufe geht es u.a. darum, durch Reime junge Lerner und Lernerinnen über den Spaß an spielerischen Texten an ein anderes Lautsystem zu gewöhnen; später, in der Sekundarstufe 1, werden literarische Texte dazu eingesetzt, einen sinnvollen erzählerischen Kontext aufzubauen, um sprachpraktische skills situativ einzuüben. Wenn es in der zweiten Sekundarstufe jedoch darum gehen soll, über Literatur (als eines Formats in its own right) zur Entwicklung/Förderung einer interkulturellen Kommunikationskompetenz beizutragen, müssen diese bisherigen Einstellungen zurückgelassen werden. Erst nach einem Kontextualisieren und Historisieren, macht macht ein Aktualisieren Sinn.
6. Your Opinion Matters: Rückmeldungen
Der Erfolg eines Kurses, wie immer gut er geplant sein mag, hängt von der Akzeptanz der KursteilnehmerInnen ab. Um dies zu erkunden, bietet sich ein freiwillig und anonym auszufüllender Fragebogen an, der folgende Sektionen enthalten könnte:
1. Fragen zu den Erwartungen, die die KursteilnehmerInnen vor Ort nach einer ersten Lektüre des Auswahltextes an den Kurs bzw. das literarische Kursmodul hatten;
2. Fragen zu den Aktions-, Sozial- und Ausdrucksformen: Welche haben ihnen gefallen, welche eher weniger;
3. Welche Empfehlungen würden sie im Falle einer Wiederholung des Kurses an die KursleiterInnen weitergeben wollen?
7. Eine demokratische Lernkultur
Nach PISA hat sich auch im fortgeschrittenen Englischunterricht die Ausrichtung auf eine Leistungsverdichtung durchgesetzt, deren Schwerpunkt auf kurzfristig verwertbare und abprüfbare Kompetenzen zu liegen scheint. Geschichtlich betrachtet hatte gerade der Literaturunterricht an Schulen eine allgemeinbildende Funktion. Das klassische Bildungsideal einer von westlichen Idealen geprägten universellen Humanität, das auf einem statischen, monolithischen und idealisierten Kulturkonzept beruhte, gehört heute zwar der Vergangenheit an: Es hat Platz gemacht zugunsten eines dynamischen, multipolaren und realistischen Kulturkonzepts: Dennoch gilt es, diese Tradition zu wahren. Im Rahmen einer demokratischen Lernkultur wird es darum gehen, eine Terrain für Respekt und Achtung des kulturellen Anderen zu schaffen, dies nicht nur in einem nationalen oder europäischen Zusammenhang, sondern global. Der fortgschrittene Englischunterricht kann mit seinen Möglichkeiten dazu einen erheblichen Beitrag leisten.
Wer mehr zu der hier zugrundelegten Theorie erfahren möchte, hier der Link. Es ist geplant, eine Langform dieses Beitrags mit behind-the scene-Informationen zu Hamids Roman sowie praxisnahen Ressourcen (Infoposters, Arbeitsblätter für Individual-, Partner- und Kleingruppenarbeit, etc.) entweder in print-Form zu veröffentlichen oder in meine Website einzustellen.
© Ingrid Kerkhoff, 2014