- Die Zukunft denken – die Gegenwart gestalten: Was können Utopien leisten?
- Thomas Morus, „Utopia“: Vision eines besseren Lebens im frühneuzeitlichen England
- Umweltfreundlich und sozial stabil: Ernest Callenbach, Ecotopia (1975)
- Fortschritt als Verwirklichung von Utopien: Welche Utopien brauchen wir heute?
- Zurück in die Zukunft: Edward Bellamy, Looking Backward 2000-1887 (1888)
- Werte auf dem digitalen Prüfstand: Dave Eggers, „The Circle“
- Margaret Atwoods Klassiker The Handmaid’s Tale (1985) – neu gelesen
Eine Dystopie aus den 1980ern
The Handmaid’s Tale der kanadischen Autorin Margaret Atwood ist eine Dystopie aus den frühen 1980er Jahren. Darin geht um einen radikalen, christlich-fundamentalischen Staat, der sich in unmittelbarer Zukunft auf dem Boden der USA etabliert hatte. Die US-Verfassung ist aufgehoben, die Rechte der Bürger und Bürgerinnen sind massiv eingeschränkt, neue Gesetze wurden erlassen und mithilfe von Überwachungsmechanismen akribisch überwacht. Weshalb in erneutes Lesen?
Es gibt es Klassiker und Klassikerinnen, die heute nicht mehr spontan überzeugen und nur mit viel Vermittlungsaufwand einem aktuellen Publikum nahegebracht werden müssen. Atwoods Langzeit-Bestseller erhielt in jüngster Zeit Aufwind durch gesellschaftspolitische Entwicklungen, die sich nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in anderen westlichen Staaten dokumentierten: Die Sehnsucht breiter Gesellschaftsschichten, die sich – durch komplexe Entwicklungen (Globalisierung etc.) verunsichert – nach einem “starken“ Staat sehnten. 2016 wurde über den US-Streaming-Dienst Hulu eine auf Atwoods Roman basierende TV-Serie in den ersten 10 Episoden der ersten Staffel ausgestrahlt. Ihre Rezeption macht deutlich, welches aktuelle Relevanzpotenzial gerade heute immer noch in Atwoods Roman steckt.
Zur Autorin
Bild: Margaret Atwood at TRU (Thompson Rivers University), Feb. 15, 2013.
In einem Interview mit der New York Times fasste Margaret Atwood ihr Buch sinngemäß so zusammen: Es sei eine Auseinandersetzung mit Macht, wie sie funktioniere und wie sie die Menschen, die in einem autoritären Regime leben [müssen], verformt und gestaltete. Was brachte eine Autorin, die nach Eigenaussage zur “strengen Agnostikerin“ (a strong agnostic) (Sinclair McKaye erzogen wurde, dazu, in den 80er Jahren eine Dystopie zu schreiben, bei der es um einen christlich-fundamentalischen Staat ging?
Atwood schrieb The Handmaid’s Tale kurz der Wahl der konservativen Politikerin Margaret Thatcher zur ersten Premierministerin Großbritanniens (1979) und der Wahl des republikanischen Politikers Ronald Reagan zum Präsidenden der USA (1981). Die wachsende Macht der “religiösen Rechten“ (Moral Majority) ließ die Feministin Atwood vermutlich befürchten, dass die Gewinne, die Frauen in den vergangenen Jahrzehnten erzielt hatten – Zugang zur Empfängnisverhütung, die Legalisierung der Abtreibung und der zunehmende politische Einfluss von Wählerinnen auf das Politikgeschehen – rückgängig gemacht werden könnten. In The Handmaid’s Tale geht es nicht nur um Frauenrechte, dies ist nur ein Beispiel, sondern – auf einer generelleren Ebene – um die Gefährdung freiheitlicher Werte angesichts von Entwicklungen, die den erreichten status quo zu destabilisieren drohten.
Das Romankonzept
Bild: Eines der vielen Titelbilder des Romans
Atwood wählte für ihren Roman eine literarische Tradition (the literature of witness), in der Zeitzeugen oder Zeitzeuginnen über bedeutungsvolle Momente in ihrem Leben berichten. Während des Schreibens habe sich der Name The Handmaid’s Tale ergeben, teils in Erinnerung an Chaucers Canterbury Tales, teilweise aber auch in Erinnerung an Märchen: Auch da werde von Figuren berichtet, die von Unglaublichem, Fantastischem erzählten, wie es jene täten, die bewegende Ereignise überlebt hätten. (Atwood)
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Ins Zentrum rückt Atwood die biblische Geschichte von Jakob, seinen beiden Ehefrauen, Rachel und Lea, und zwei Mägden. Ein Mann, vier Frauen, 12 Söhne, aber die Mägde konnten die von ihnen geborenen Kinder nicht für sich beanspruchen: Sie waren Eigentum der jeweiligen Ehe-Frauen. So entfaltet sich Atwoods Geschichte.
Eine Regel, die sich Atwood selbst auferlegt hatte, war, keine Ereignisse einzubeziehen, die zuvor noch nicht stattgefunden hatten und auch keine Technik, die zu ihrer Zeit noch nicht verfügbar war.
Der Roman besteht aus einer Art Tagebuchbericht einer anonym bleibenden Erzählerin, die, dem beängstigenden Regime entkommen, ihre Erlebnisse und Erfahrungen in der “Republik Gilead“ rekonstruiert:
Dies ist eine Rekonstruktion. Alles ist eine Rekonstruktion. Es ist eine Rekonstruktion jetzt in meinem Kopf, wenn ich flach auf meinem Einzelbett liege und mir immer wieder überlege, was ich hätte tun oder nicht hätte tun sollen … um jemals [da] herauszukommen. (Kap. 23)
Ihre Erzählung wird immer wieder von Rückblenden unterbrochen, in denen Gedanken an ihr Leben vor Gilead sich einmischen: ihre Affaire und spätere Heirat mit Luke, ihrem Ehemann, ihr gemeinsames Kind, der Fluchtversuch nach Kanada, Erinnerungen an ihre Mutter, alleinerziehend und feministische Aktivistin oder an Moira, ihre beste Freundin von damals, vor Gilead eine durch-und-durch Rebellin.
Anlässlich des Arthur C. Clarke Award für die beste Science Fiction (1987) wurde Atwood von einem Journalisten befragt, ob ihr Roman als Science-Fiction einzustufen sei. Ihre Antwort: “Science-Fiction hat Monster und Raumschiffe; spekulative Fiktion könnte wirklich stattfinden.“ (Quelle)
Die “Republik Gilead“
Zur Geschichte
Atwoods “Republik Gilead“ ist eine Mischung aus einem frühen puritanischen Neuengland (Atwood, 2017), den amerikanische Südstaaten zur Zeit der Sklaverei und Elementen totalitärer Staaten des 20. Jahrhunderts. Die neuen Machthaber nannten sich “Söhne Jakobs“ [1].
Bibelzitate als Grundlage der neuen Staatssprache
Die Söhne Jakobs gelten als Stammväter eines Stammesverbundes, der später zu einem einheitlichen Volk zusammenwachsen sollte. In der biblischen Geschichtsschreibung setzten sie alles daran, u.a. durch eine gemeinschaftliche Sprache die unterschiedlichen Stämme zu vereinen. Ebenso setzen auch die neuen Machthaber Gileads alles daran, eine neue Staatssprachezu etablieren, um einen sozialen Zusammenhalt herzustellen. Sie war aus alttestamentalischen Zitaten zusammengesetzt. Hier ein paar Beispiele:
Gilead bezeichnet im alten Testament eine produktive Hochlandregion, die bekannt war für ihre Schaf- und Ziegenherden, Obstgärten, Weinberge und viele Gewürze, kurz eine sehr fruchtbare Region. Alle Institutionen in Gilead tragen bibelentlehnte Namen, z.B. das Umerziehugszentrum (The Rachel and Lea Center [4]), die Einkaufsläden (Milk and Honey [3] etc.) bis hin zum Luxuswagen des Kommandante (Whirlwind). Auch das öffentliche Miteinander ist sprachlich geregelt: Eine Handmaid, die einer anderen Handmaid begegnet, hat die Begrüßung mit der Formel “Gesegnet sei die Frucht“ („Blessed be the fruit”) einzuleiten. Akzeptierte Antwort: “Möge der Herr dir offen sein“ (“May the Lord open”).
Sprache kann Identitäten schaffen, sie kann aber auch Identitäten in Frage stellen. Ähnlich wie bei Orwell in 1984 (“Newspeak“) benutzen die Architekten von Gilead Sprache als Regulativ, um Macht auf die Gedanken und Gefühle auszuüben und mögliche Gegenaktionen im Kern zu ersticken; dies im Sinne anderer, machtversessene Ziele.
Hierarchisch und streng reglementiert: Zur Sozialskala
Im Roman beschreibt Offred, die der Erzählerin zugewiesene Partnerin, die Kleiderordnung der Frauen so:
Es gibt … Frauen mit Körben, einige in Rot [die Handmaids], einige im stumpfen Grün der Marthas, und einige in den gestreiften Kleidern, rot und blau und grün, billig und schlecht sitzend, die Frauen der ärmeren Männer. Econowives nennt man sie. Diese Frauen sind nicht nach Funktionen unterteilt. Sie müssen alles tun, wenn sie es können. Manchmal ist da eine Frau ganz in schwarz, eine Witwe. Früher gab es mehr von ihnen, aber ihre Zahl schwindet. Die Frauen der Kommandanten sieht man nicht auf den Bürgersteigen. Nur in Autos. (Kap. 26-27).
Dazu der Kommentar Atwoods:
Die Kostüme, die die Frauen von Gilead tragen, stammen aus der westlichen religiösen Ikonographie – die Frauen tragen das Blau der Reinheit, von der Jungfrau Maria; die Mägde tragen rot, nach dem Blut der Geburt, aber auch von Maria Magdalena. Zudem ist rot leichter auszumachen, wenn man vorhat zu fliehen. Die Frauen der Männer aus den unteren Klassen heißen Econowives und tragen Streifen. Ich muss gestehen, dass die Hauben, die das Gesicht verbergen, nicht nur von den Kleidern der viktorianischen Ära kamen und von Nonnen, sondern auch von der Werbung für den Old Durch-Reiniger der 1940er Jahre [inspiriert wurden], die eine Frau mit verborgenem Gesicht zeigte, was mich als Kind erschreckte. (Atwood, 2017)
Dress Code: Farbcodierungen Frauen: |
Schauplätze und Rituale
The Rachel and Lea Center
Im sog. “Red Center“, wie es umgangssprachlich aufgrund der vorherrschenden Farbe rot bekannt ist, werden Frauen auf ihre zukünftige Aufgabe als handmaids vorbereitet. Benannt ist Center nach den biblischen Frauen Rachel und Lea, zwei Schwestern, die über die Geburt von Kindern in Konflikt gerieten, sich dann aber arrangierten [4].
Schwängerungszeremonien
In der biblischen Geschichtsschreibung galt Rachel zunächst als unfruchtbar. Da sie sich nicht damit abfinden konnte, dass ihre ältere Schwester, die von ihrem Mann weniger geliebte, ihm Kinder gebar, sie aber nicht, trat sie an ihn heran, präsentierte ihm ihre Magd (Bilha) mit dem Hinweis: “Gib mir Söhne, sonst sterbe ich.“ Die Bibel gibt auch eine bildliche Darstellung vor: “Gehe zu ihr! Sie soll auf meinen Knien gebären, damit auch ich durch sie zu Kindern komme!“ (Gen 30.3).
The Wall
Eine Stätte am Fluß. Hier finden in regelmäßigen Abständen sog. Salvagings statt, ein Euphemismus für öffentliche Hinrichtungen. Darunter katholische Priester, Gynokologen, die Frauen geholfen haben, ihr Recht auf Eigenbestimmung ihres Körpers wahrzunehmen, Quaker [8], Männer und Frauen, die sich aus Sicht der neuen Staatsideologen des “Geschlechtsverrats“ (gender treachery) schuldig gemacht haben.
The Colonies
Mit radioaktiven Toxinen verseuchte Gebiete. Hierin werden Bürgern oder Bürgerinnen verlegt, derer sich der Staat entledigt will. Die Aufräumungstrupps bestehen aus Ungläubigen, alten oder sterilen Frauen und anderen als “unbrauchbar“ eingeschätzten MitbürgerInnen.
Die Romangesellschaft
Bild: “Handmaid under the Eye.“ Autor: Segeton
Kurzportraits der handelnden Figuren gibt es auch auf anderen Plattformen. Hier dennoch ein paar Kennzeichen, auf denen die Interpretation aufbaut.
Die Erzählerin (Offred)
Ihren usprünglichen Namen gibt die Erzählerin nicht preis. Ihr wurde der Name ihres Besitzers (Of-Fred, Fred zugehörig) verpasst. Sie ist als handmaid (Magd, Dienerin) dem Haushalt des Commanders zugeteilt. Ihre Aufgabe: dazu beizutragen, dass es wieder Kinder gibt.
Wir erfahren kaum Details über sie:
Ich bin dreiunddreißig, habe braune Haare. Ich bin ohne Schuhe 1.69. Ich habe Schwierigkeiten, mich zu erinnern, wie ich früher aussah. Ich habe funktionierende Eierstöcke. Und ich habe noch eine Chance. (Kap. 24)
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Vor Gilead hatte die Erzählerin Wirtschaftswissenschaft, Englisch und Psychologie studiert und als Selbständige gearbeitet, hatte ihr eigenes Geld. “Offred“, wie sie nun heißt, versucht, irgendwie in Gilead zu überleben. Sie ist nicht weinerlich, wie Janine, die angesichts der Strapazen, denen sie ausgesetzt ist, dabei ist, ihren Verstand zu verlieren, noch ist sie wie ihre ehemalige Freundin, der allzeit Rebellin Moira. “Offred“ begnügt sich damit, hier und da die Welt, in der sie jetzt lebt, gelegentlich minimal zu manipulieren. So nimmt sie eines Tages Blickkontakt mit einem Wächter (Guardian) auf, obwohl sie weiß, dass dies streng verboten ist: Es war, raisoniert sie später, ein kleiner Trotz gegen die Herrschaft, so klein, dass er nicht nachweisbar war. Eines Tages entdeckt sie im Schrank ihres Zimmers einen eingeritzten Spruch: Nolite te bastardes carborundorum. (“Lasst euch nicht von den Bastarden unterkriegen“) (Kap. 9). Sie geht dem Hinweis nach. Später findet sie heraus, dass die Verfasserin dieses Spruches sich mit einem zerrissenen Bettlaken am Kronleuchter aufhing (Kap. 29).
Der Commander
Kommandant Fred ist ein hochrangiges Mitglied des neuen theokratischen Staates. Ursprünglich war er an der Gründung der “Republik Gilead“ beteiligt. Nach den ersten Fortpflanzungszeremonien, denen er sich zwangsläufig hatte zur Verfügung stellen müssen, sucht er die Nähe der Erzählerin. Bei einem geheimen Rendez-Vous überredet er sie, mit ihm Scrabble zu spielen, was in die Verbotsliste fiel, denn handmaids durfen offiziell nicht lesen oder schreiben. Später ermutigt er sie, in seinem Beisein alte Zeitschriften zu lesen. Letztendlich besorgt er für sie als Tarnung ein gewagtes Outfit, um sie mit ins Jezebel’s zu nehmen, offiziell als seine jüngste Errungenschaft. (mehr dazu)
Serena Joy
Sie ist die Ehe-Frau des Kommanders. In der Romanvorlage wird sie als ältlich beschrieben: sie leidet unter Arthritis, humpelt und akzeptiert die Anwesenheit Offreds nur wider willen. (Kap. 3) In früheren Tagen war sie – ihr bürgerlicher Name war Pam – Gospelsängerin, “the leading Soprano“ eines Gospelchors. (Kap.3) Später schrieb sie Reden; sie galt glühende Verfechterin “konservativer Werte“. (Kap.8) Jetzt sie ist nur noch Chefin der Hausangestellten, beschafft sich verbotene Konsumartikel (Zigaretten, Alkohol etc.) auf dem Schwarzmarkt, kultiviert ihren Garten und strickt Schals für die Angels. Als die Zeit mit Offred abzulaufen schien und ihr Ehemann es offenbar nicht geschafft hatte, Offred zu schwängern, geht sie mit Offred einen Deal ein.
Moira
Sie ist die Rebellin, die unermüdliche Kämpferin. Die Erzählerin kennt sie aus früheren Zeiten. Vor Gilead hatte sie spektakuläre Events organisiert, um auf die Ausbeutung von Frauen durch die Medien aufmerksam zu machen. Für die Erzählerin repräsentiert Moira Mut und Hoffnung. Aber selbst Moira gelingt es nicht, Gilead zu entkommen. Die Erzählerin trifft sie noch einmal im Jezebel’s. Moira war einmal mehr aufgegriffen worden und vor die Entscheidung gestellt, entweder, zum wiederholten Mal, zurück ins Zentrum gebracht zu werden und dort zur Verfügung zu stehen oder im Jesebel’s Dienst zu leisten. Sie entschied sie sich für letzteres, da – wie sie der Erzählerin bei einem privaten Gespräch im Ruheraum anvertraute – es da zumindest Alkohol, Drogen und Zigaretten gebe (mehr zu Moira).
Ofglen
Ofglen (Glen zugehörig) ist der Erzählerin als Partnerin zugeteilt. Während einer der Ausgänge vertraut Ofglen der Erzählerin an, dass sie Mitglied von “Mayday“ [7] sei. Bei einer der Salvagings macht sie die Erzählerin darauf aufmerksam, dass einer der auf brutale Weise Hingerichteten kein Vergewaltiger, wie öffentlich vorgegeben, sei, sondern ein politischer Gefangener. (Kap. 44). Als die Geheimpolizei hinter ihr her ist, erhängt sie sich, um einer Festnahme zu entgehen.
Aunt Lydia
Sie ist für die Unterweisung der handmaids zuständig. Sie versucht u.a., das Vertrauen der ihr Anbefohlenen dadurch zugewinnen, dass sie ihnen erzählt, dass es für die nächste Generation schon anders sein würde: Wenn sich das Bevölkerungsniveau eingepegelt haben werde, würden Frauen wieder in Harmonie zusammenleben und auch wieder einander bei der Verrichtung der täglichen Aufgaben helfen, denn die gegenwärtige Situation sei weder vernünftig noch menschlich. Die Töchtergeneration würde mehr Freiheiten haben. Außerdem arbeite man darauf hin, dass jede einen kleinen Garten bekäme. (Kap. 26)
Nick
Er ist Fahrer und Gärtner im Hause des Kommandanten. Er fährt den teuren Wagen, einen Whirlwind [2] und trägt die Uniform eines Guadian (Kap. 4). Die Erzählerin betrachtet ihn von Anfang an mit Argwohn: Er erscheint íhr zu lässig, für seine Stellung nicht servil genug. Er rieche nach Fisch, wie man zu sagen pflege: Sie rieche da eine Ratte. Für den Großteil der Geschichte agiert Nick ihr gegenüber als Überbringer von geheimen Botschaften des Kommandanten. Später wird er von Serena Joy dazu ausgesucht, als Samenspender für ihren sterilen Ehemann herzuhalten. Gegen Ende der Geschichte stellt sich heraus, dass auch er Mitglied der im Untergrund wirkenden Organisation Mayday [7] ist.
Luke
Luke existiert nur in den Erinnerungen der Erzählerin. Sie kämpft verzweifelt damit, entwederweder die Gedanken an ihn wachzuhalten oder ihn aufzugeben, da sie ihn für tot hält. Als sie vor Gilead mit ihm zusammenkam, war er zunächst verheiratet. Sie hatten versucht, mit ihrer gemeinsamen Tochter nach Kanada zu fliehen, wurden jedoch aufgegriffen und getrennt.
Gilead ist kein Retro-Staat
Das Regime gibt sich zwar vordergründig alttestamentlarisch-religiös, doch es ist kein rückwärts gewandter Staat. Alle wissenschaftlichen Standards, z.B. die Digitalisierung, werden aus den ehemaligen USA übernommen, die Ernährung folgt neusten Erkenntnissen. Es ist jedoch eine höchst instabile Gesellschaft. Hinter den Kulissen herrscht dieselbe Bigotterie wie vor dem Staatsstreich. Kaum jemand aus den höheren Klassen hält sich an die Vorschriften, unterläuft sie, wo immer sich dazu eine Möglichkeit bietet. Das Ende bleibt offen. Im letzten Kapitel wird die Erzählerin von uniformierten Männern abgeholt und in einem schwarzen Van einer ungewissen Zukunft entgegengefahren (Kap. 46).
Die “Historical Notes“
Dem Text ist ein Anhang beigegeben. Zunächst zum Szenario: Am 25. Juni 2195, also etwas mehr zwei Jahrhunderte nach Gileads “feindlicher Übernahme“ eines Teils der USA, findet an der Universität von Denay, Nunavit, Kanada [5] ein Symposium zu den “Gileadean Studies“ statt. Es soll u.a. um die Authentizät des Manuskripts und die vermutliche Identität der Erzählerin gehen. Der Hauptreferent, ein Professor namens Pieixoto skizziert die Genese des Manuskripts. Demnach sei es aus Transkriptionen von etwa dreißig Tonbandaufzeichnungen zusammengesetzt worden, die man – unsortiert – in einer Metallkiste in der Nähe von Bangor, Maine [6] bei Grabungen gefunden habe. Ein Wissenschaftler mit Namen Wade habe die Rekonstruktion des Manuskripts betreut und habe es The Handmaid’s Tale genannt. Aus den Tonbandaufzeichnungen könne man mit einiger Sicherheit schließen, dass Offred zur “ersten Welle der Frauen gehöre, die zu Fortpflanzungszwecken rekrutiert wurden“; dies zu einer Zeit, in der die Geburtenrate weißer Frauen durch Geburtenkontrolle sowie Syphilis, AIDS, Fehlgeburten und genetische Deformitäten aufgrund von nuklearen Schädigungen massiv zurückgegangen sei. Das Interessante an diesem ans Ende gestellte Szenario, das vorgibt, einen historische Rahmen für die gefundenen Manuskripte zu liefern, ist der unterschwellige Ton, mit dem über die Dokumente auf akademischer Ebene verhandelt wird. Er ist geprägt von den männlich-professoralen Attitüden des Hauptreferenten, dessen Arroganz im Umgang mit dem Fund LeserInnen, die zuvor das Manuskript gelesen hatten, nicht verborgen bleibt. Gleichwohl scheint – dies ein subtiler Hinweis der Autorin – eine solche Praxis auch noch im Jahr 2195 Realität zu sein.
Atwoods Roman als TV-Serie
Die TV-Serie ist nicht die erste filmische Adaptation von Atwoods Roman. Volker Schlöndorff hatte den Roman schon 1990 mit bekannten DarstellerInnen – u.a. Faye Dunaway als Serena Joy – inszeniert. Bruce Miller, als Produzent für die ersten Episoden zuständig, nahm zahlreiche Veränderungen vor, um Atwoods Geschichte – wie er sagte – für ein heutiges Fernsehpublikum plaubibel zu machen.
Veränderte Form und Erzählstruktur
Im Buch geht es um den Versuch der Erzählerin, aus ihrer Sicht darüber zu berichten, wie sie ihre Rolle in der sog. “Republik Gilead“ empfunden hat, unchronologisch, wissend und beteuernd, dass es sich um eine Rekonstruktuktion ihrer Erinnerung handelt. Die TV-Serie macht daraus eine chronologische Geschichte, setzt auf szenische Darstellung und Dialog.
Die anonyme Erzählerin erhält einen Namen
Im Buch erfahren wir den realen Namen “Offreds“ nicht. In der TV-Show hat sie einen Namen: June. Bruce Miller begründet es so:
Es ist wichtig, dass sie einen Namen hat, weil es Teil der Show ist, dass sie das Ganze nicht so weiter laufen lassen will …. Sie ist stark und beharrlich – obwohl sie zunächst zufrieden sein muss, stumm und sanftmütig. Ihre Identität zu behalten war ein wichtiger Teil, und das brauchte einen Namen.
Integrierte Gesellschaft
Hulus Version von The Handmaid’s Tale hat eine vielfältigere Besetzung von Charakteren, darunter auch die beste Freundin Offreds Moira und Ehemann Luke. Miller sagte, es hätte darüber mit Atwood eine “große Diskussion“ gegeben. Es ging um eine Abwägung zwischen einer TV-Show über Rassisten und einer rassistischen TV-Show, eine für ihn wesentliche Unterscheidung. Er habe sich für ersteres entschieden. Er machte aber auch einen zweiten Punkt geltend: Es ging darum, den fatalen Geburtsraten entgegenzuwirken. Miller: „Ich habe die Entscheidung getroffen, dass die Fruchtbarkeit alles übertrumpft“.
Das Commander-Paar ist verjüngt
In der Serie wird der Commander von Joseph Fiennes gespielt. Im Roman heißt es:
Sein Haar ist grau. Man könnte es auch Silber nennen, wenn man nett sein will … Ich (i.e. Offred) sollte Hass für diesen Mann empfinden. Es ist jedoch nicht, was ich fühle. Was ich fühle, ist komplizierter. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Es ist nicht Liebe.
Auch Ehefrau Serena Joy ist in der TV-Version deutlich jünger. Dadurch, so Miller, sollte die Konkurrenz zwischen den beiden Frauen, der Ehefrau und der temporären Zweitfrau, besser nachvollziehbar sein:
Ich empfand, dass die Dynamik wirkungsvoller war, wenn Serena Joy fühlte, wie diese Person [Offred] ihre Rolle im Bezug auf die Fortpflanzung des Hauses ersetzte, sondern ihr allmählich auch die ehelichen Aufgaben, intime Dinge, romantische, sexuelle wegnehmen würde. (Quelle).
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Janine
In der TV-Version hat Janine ihr rechtes Auge verloren: Konsequenz einer “t-shaming“-Zeremonie. Damit legt die Show schon sehr früh den Akzent auf das Unheil, das allen droht, die Verhaltensweisen an den Tag legen, die vom Regime tabuisiert sind.
Modernisierungen
Laut Miller sollte die Show-Version im Jahr 2017 spielen. Daher wurden zeitgemäße Referenzen eingefügt, z.B. Anspielungen auf Uber und Craigslist. Die Handmaids tragen rote GPS-Peilsender (red tag trackers) am Ohr.
Man mag darüber streiten, ob es sinnvoll war, den Episoden der ersten Staffel, die im wesentlichen das Ursprungsmanuskript abdecken, weitere Staffeln folgen zu lassen. Fernsehproduktionen unterliegen aber nunmal kommerziellen Regeln, die mitunter den Absichten der AutorInnen nicht allzu förderlich sind. Dennoch ist es den ersten 10 Episoden der TV-Adaptation gelungen, u.a. durch ästhetisch gelungene Bilder die ganze Reichweite dieser düsteren Vision einer radikal-fundamentalistischen Gesellschaft zu transportieren.
The Handmaid’s Tale für eine neue Generation
Bild: The Handmaid’s Tale. Folio Edition, mit einer Einleitung der Autorin und 6 Farbillustrationen von Anna & Elena Balbusso.
The Handmaid’s Tale ist heute auf vielen Plattformen präsent: als klassische Buchveröffentlichung, als TV-Serie, selbst als Graphic Novel.
Das Buch ist seit langem ständiger Bestseller auf der Vintage Classics-Liste. Die Trump-Präsidentschaft sorgte für einen zusätzlichen Anreiz, da sich Leser und Leserrinnen in Zeiten politischer Ungewissheit gern Dystopien zuwenden. (Barnett).
Die Folio-Ausgabe setzte ein neues Highlight, u.a. auch durch die Illustrationen der Balbusso-Schwestern. Anna and Elena Balbusso erklärten ihre Arbeit so:
Um eine visionäre Interpretation zu geben und die richtige Atmosphäre für die Geschichte zu schaffen, wählten wir einen futuristischen Ton mit akzentuierten Perspektiven und starkem Licht. Wir benutzten ein paar Farben, mit einer Vorliebe für Rot, Schwarz und Weiß. Unere Reerenzen waren der Futurismus, der russische Konstruktivismus und das Design der faschistischen Periode. (ebd.)
Atwood legte Wert darauf zu betonen, dass das Buch nicht “feministisch“ sei, zumindest nicht im Sinne eines ideologischen Traktats, in dem alle Frauen Engel und/oder Opfer seien, so dass sie keine moralische Wahl hätten. Im Wortlaut:
Wenn man jedoch einen Roman meine, in dem Frauen Menschen sind – mit all der Vielfalt an Charakteren und Verhaltenweisen, die dies impliziert – und wenn es auch interessant und wichtig ist, was mit ihnen geschieht, ist es entscheidend für das Thema, die Struktur und die Handlung des Buches. In diesem Sinne sind viele Bücher “feministisch“. (Quelle)
Das Buch sei auch nicht antireligiös, wohl aber ein Statement gegen die Instrumentalisierung von Religion als eine Fassade für Diktatur und Tyrannei.(ebd.)
Die Produzentin und Hauptdarstellerin der TV-Serie, Elisabeth Moss, brachte es auf den Punkt: The Handmaid’s Tale sei für die jungen Leute ihres Alters (die heute Dreißigjährigen) eine Warnung, Rechte nicht als eine Selbstverständlichkeit hinzunehmen.
Fußnoten
[1] The Sons of Jacob
Jakob hatte zwölf Söhne. Laut biblischer Geschichtsschreibung änderte er nach einem Ringen mit dem Boten Gottes seinen Namen zu Israel und gründete mit seinem Stamm Israel, das auserwählte Volk Gottes. (Genesis 32:28):
[2] Whirlwind
Der Name des Luxuswagens, den Nick im Auftrag des Commanders fährt. Das Auto ist sehr teuer, eben ein Whirlwind; besser – wie es im Originalmauskript heißt – als der Chariot, viel besser als der klobige, praktische Behemoth. (Kap. 4) Der Wagen sei schwarz, die Farbe des Prestiges oder die eines Leichenwagens, lang und glatt. (Bezug zur Bibelstelle: Psalmen 77,18.)
[3] Milk and Honey
“Das Land, in dem Milch und Honig fließen.“ Das Volk Israel war auf der Flucht vor den Ägyptern hinein in die Wüste. Ihm wurde ein Land versprochen, das weit und schön sei (Ex 3,8). Was heißt, es musste sehr fruchtbar sein.
[4] Rachel und Lea
Rachel und Lea sind in der Bibel zwei Schwestern (Gen. 29, 16-18): Rachel ist die jüngere und schönere: Jakob ist ihr stärker zugetan. In der Hochzeitnacht besteht der Vater jedoch darauf, dass zunächst die ältere Lea berücksichtigt würde, mit der Begründung: „Es ist nicht Brauch an unserem Ort, dass man die Jüngere vor der Älteren verheirate“ (Gen 29,26). Nach der Hochzeitswoche mit Lea wird Rachel ihm zur Frau gegeben, mit der Leibmagd Bilha als Mitgift (Gen 29,28-29). Die Rivalität zwischen den Schwestern bricht aus, als die von Jakob weniger geliebte Lea vier Söhne zur Welt bringt, während Rachel, dem Wort nach das “Mutterschaf“, unfruchtbar bleibt. Sie versucht, diesem Zustand entgegenzuwirken, indem sie ihre Leibmagd Bilha Jakob zuführt, um durch sie dennoch zu Kindern zu kommen (Gen 30,3-4).
[5] University of Denay, Nunavit/Kanada
Nunavit (Nunavut) ist ein Territorium im Norden Kanadas. Es grenzt im Westen an die Nordwest-Territorien, im Osten an Grönland und im Süden an die Provinzen Manitoba, Ontario und Québec. (Karte: Wikipedia) Besonderes Merkmal: die Berücksichtung der Rechte der dort lebenden Inuit.
[6] Bangor, Maine
Bangor, Maine war ehemals eine von Quakern organisierte Etappe in der sog. Underground Railway, zu der Abolitionisten entflohene Sklaven aus den Südstaaten brachten, um sie nach Kanada weiter zu schleusen.
[7] Mayday
In vor-gileadischen Zeiten stellt Luke der Erzählerin eine Frage, die er selbst beantwortet: „Weißt du, worher es kommt? … Es ist französisch, sagte er. Von m’aidez. / „Helfen Sie mir, helft mir“. (Kap. 5). Im Englischen wird es wie “Mayday“ ausgesprochen und ist ein universeller Funkcode, der extreme Not anzeigt.
[8] Quaker
In Kapitel 38 erzählt Moira, wie eine Quakerfamilie ihr bei der Flucht geholfen hat. Die Quäker (Society of Friends) sind Mitglieder einer christlichen Weltanschauungsgemeinschaft, existieren seit dem 17. Jht. und haben sich aktiv für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt. Sie sind bekannt für ihr Engagement für die Gleichberechtigung von Frauen.
Literatur
Alderman, Naomi. “Dystopian Dreams: How Feminist Science Fiction Predicted the Future.“ The Guardian, 25 March 2017.
Andreas, Gian Philip. “The Handmaid’s Tale: Elisabeth Moss glänzt in beängstigender Zukunftsvision.“ TV Wunschliste (08.05.2017).
Atwood, Margaret. The Handmaid’s Tale. (Online Text.)
Atwood, Margaret. “What ‘The Handmaid’s Tale’ Means in the Age of Trump“. The New York Times (March 10, 2017).
Barnett, David. „The Handmaid’s Tale tops book charts after TV series UK debut.“ The Guardian. (29 May 2017).
Card, Katy. “The Handmaid’s Tale: Plot Summary„.
Commins, Leanna. “12 Things To Know About Hulu’s ‚The Handmaid’s Tale'“. Cosmopolitan (Apr 23, 2017).
Garbato, Kelly. “On the Film adaptation(s) Volker Schlöndorff.“
Macdonald, Heidi. “A graphic novel of The Handmaid’s Tale written by Margaret Atwood is also on its way“. The Beat: Comic culture. 03/31/2017
Renfro, Kim. “9 changes ‚The Handmaid’s Tale‘ show made from the original dystopian book“. Business Insider (Apr. 28, 2017)
Schlöndorff, Volker. Die Geschichte der Dienerin. Verfilmung des Romans Der Report der Magd (The Handmaid’s Tale) von Margaret Atwood. 1990.
Saraiya, Sonja. “The Handmaid’s Tale’: Star Elisabeth Moss Talks Season 1’s Momentous Finale“. Variety
Sparknotes. The Handmaid’s Tale.