Bild: Ishiguro (2005). Foto: Mariusz Kubik

2017 ging der Nobelpreis für Literatur an Kazuo Ishiguro, britischer Autor japanischer Herkunft (geboren 1954 in Nagasaki) und Booker-Preisträger. Die Preismotivation des schwedischen Nobelkomitees: Isiguro schreibe „Romane von großer emotionaler Kraft“, die „den Abgrund unter unserem illusorischen Gefühl der Verbindung mit der Welt aufgedeckt haben“.

Sein Werk sei geprägt durch „eine vorsichtige Form des Ausdrucks, die unabhängig ist von den Ereignissen, die es erzählt“, schrieb das schwedische Komitee in einem Brief nach der Bekanntgabe. Ishiguro hat drei Romane geschrieben: The Remains of the Day (1989), Never Let Me Go (2005) und The Buried Giant (2015).

The Buried Giant, Ishiguros bislang letzter Roman, wurde – wie auch die früheren – in den Medien eifrig diskutiert. Auf der narrativen Ebene begibt sich Ishiguro in den Bereich der Fantasy-Literatur, historisch verankert in Britannien im 5. oder 6. Jahrhundert. Übergreifendes Thema ist eine Schlüsselfrage, die jenseits von Ort und Zeit nicht an Bedeutung verloren hat: Welchen Sinn hat es, sich immer wieder an vergangenes Leid zu erinnern? Was würde ein Vergessen für die Gegenwart, aber auch für die Zukunft bringen. Die Frage ums Erinnern und Vergessen wird sowohl auf der individuellen Ebene, der Geschichte von Axl und Beatrice und der gesellschaftlichen Ebene, des gemeinschaftlichen Zusammenlebens von einheimischer Bevölkerung und den angelsächsischen Eroberern.

Bild: Cover der Erstausgabe

The Buried Giant, 2015 publiziert, handelt von Liebe, Krieg, Rache und verlorenen Erinnerungen. Ein älteres Ehepaar verlässt sein Heimatdorf und zieht durch ein unruhiges Land voller Nebel und Regen in der Hoffnung, ihren Sohn zu finden, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Die Zeit: Britannien nach dem Abzug der Römer und vor der Besiedlung durch die Angelsachsen. Der Roman, vom Genre her Fantasy-Literatur, handelt von Ogern und anderen Fantasy-Wesen, stellt aber auch Fragen, die jenseits des historisch-mythologischen Stoffes und jenseits des literarischen Genre auch heute von Belang sind: Wie geht man mit Erinnerungen um? Sollte man sie ruhen lassen oder ihnen nachgeben: dies sowohl auf der individuellen wie der gesellschaftlichen Ebene.

Zum geschichtlich-mythologischen Hintergrund
Ishiguro habe wissenschaftliche Recherchen angestellt, sagte er in Interviews, um die Zeit, in der seine Geschichte spielt, korrekt rüberzubringen. Über die 300 Jahre nach dem Abzug der Römer aus Britannien ist kaum etwas bekannt, daher hat er sich offenbar daran orientiert, was die Menschen damals vermutlich geglaubt haben: Sie hatten Angst vor Drachen, Unholden und anderen magischen Wesen. Es war auch die Zeit, in die der Artus-Mythos zurückgeht. Ishiguro interessierte sich nicht für die üblichen Grals- oder Guinevere-Geschichten, sondern für den historischen Kern des Artus-Mythos, die Völkerwanderungszeit, als sich die britische Restbevölkerung nach dem Abzug der römischen Legionen gegen rebellische Angelsachsen zur Wehr setzten. In Artus sah Ishiguro vor allem einen Widerstandskämpfer.

Die Handlung

Bild: Sir Gawain and the Green Knight. Late 14th century, author unknown.

Britannien im 5. Jahrhundert: Nach erbitterten Kriegen zwischen den Volksstämmen der Britannier und der Angelsachsen ist das Land verwüstet. Ein Nebel des Vergessens hat sich über das Land gelegt. Die Völker leben in Frieden miteinander, doch es ist ein brüchiger Frieden.

Die Geschichte beginnt mit Axl und Beatrice, einem älteren christlich-britonischen Ehepaar. Ihre Liebe ist offensichtlich: Axl spricht Beatrice immer als seine „Prinzessin“ an. In ihrem Dorf haben sie einen geringen sozialen Status, werden zwar geduldet, aber man gibt ihnen deutlich zu verstehen, dass sie eine Belastung für die Gemeinschaft sind. Die Kinder verspotten sie, und die Gemeinde nimmt ihnen die Kerze und zwingt sie so, ihre Nächte im Dunkeln zu verbringen. Sie entschließen sich, ihr Dorf zu verlassen in der Hoffnung, ihren Sohn zu finden, den sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen haben. Auf ihrer gefahrvollen Reise begegnen sie einem Ritter, einem Drachen, Kämpfern diverser Art, Mönchen, Kobolden, Menschenfressern und immer wieder dem Nebel des Vergessens, der sich an einigen Stellen zu lichten beginnt. Während Beatrice die Rückkehr ihrer Erinnerungen kaum erwarten kann, fürchtet sich Axl mehr und mehr vor ihnen. Alles scheint aus dem Gleichgewicht zu geraten, sogar ihre Beziehung.

Erinnerung und Vergessen
Der „Riese“ des Titels bezieht sich auf einen Drachen (a she-dragon), dessen Atem Vergessen sprüht. Der Nebel ermöglicht es Sachsen und Briten, Seite an Seite zu leben. Er steht als Metapher für die Grausamkeiten, die in der Vergangenheit zwischen den Bevölkerunggruppen geschehen sind, jetzt zwar begraben sind, dennoch aber ein anhaltendes Gefühl der Erinnerung hinterlassen.

Ishiguro hat sich mehrfach in Interviews zum Thema Erinnern und Vergessen, das ihn nicht erst seit The Buried Giant beschäftigt, geäußert. Es geht dabei vor allem um unangenehme Erinnerungen aus der Vergangenheit. Man plage sein Gewissen damit, beeinträchtige damit Gegenwart und auch die Zukunft. Aber einfach die Erinnerungen zu ignorieren führe ebenso zu Problemen. Die Schlüsselfrage, die uns an verschiedenen Punkten unseres Lebens immer wieder begegne, sei: Wann sollte man lieber vergessen und einfach weiterleben? Und wann sollten wir ehrlich sein und uns der Vergangenheit stellen? In Der begrabene Riese habe er diese Frage zum ersten Mal auf beiden Ebenen aufgegriffen, der individuellen wie der gesellschaftlichen. Daran reihen sich Folgefragen an. Es gebe Unterschiede darin, wie ein Land sich erinnert und vergisst. Was ist dabei die Mechanik? Wo sind die Speicherplätze? Wer kontrolliert sie in einer Gesellschaft? Wie manipuliert man sie? Die Verwaltung der Erinnerung eines Landes ist hart umstritten, weil sie deren weitere Entwicklung bestimmt.

Kazuo Ishiguro, The Buried Giant (2015)
Ausgabe
Kazuo Ishiguro: The Buried Giant. Knopf, New York, 2015.
Übersetzung
Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese. Ins Deutsche übersetzt von Barbara Schaden
Adaptation
„Ishiguro Reads the First Three Pages from The Buried Giant.“ In: Appel Salon (4:12-11:00)

Ein ambitioniertes Projekt
Die Rezeption des Romans war gespalten. James Wood war nicht überzeugt und schrieb im Newyorker:

Er (d.h. Ishiguro) hat keinen Roman über historische Amnesie geschrieben, sondern eine Allegorie über eine historische Amnesie, die in einem Großbritannien des sechsten oder siebten Jahrhunderts spielt, in der Drachen, Oger und Artusritter Amok laufen. Das Problem ist nicht Fantasy, sondern die Allegorie, die abstrakte Sachverhalte bildlich darstellt und vereinfacht. Der Riese ist nicht tief genug begraben.

Alex Preston vom Guardian sieht das anders:

Sich auf eine einzige Lesart seiner Geschichte von Nebeln und Monstern, Schwertern und Zauberei zu konzentrieren, reduziert sie auf ein einziges Gleichnis; sie ist viel mehr als das. Es ist eine tiefgründige Untersuchung von Gedächtnis und Schuld, von der Art und Weise, wie wir als Gruppe ein Trauma zurückrufen. Es ist auch eine außerordentlich atmosphärische und sehr lesenswerte Geschichte, die in einem einzigen Zug verschlungen werden kann. The Buried Giant ist Game of Thrones mit einem Gewissen, Die Hexe und der Zauberer für das Zeitalter der Trauma-Industrie, ein schönes, herzzerreißendes Buch über die Pflicht, sich zu erinnern und den Drang zu vergessen.

Ishiguros Roman zeigt, dass auch ein Fantasy-Roman, der vor einer langen Zeit in einer mythologischen Vergangenheit spielt, in der Lage sein kann, aktuelle Themen von bedeutender Relevanz zu transportieren. Es muss allerdings ein genuines Interesse an Fantasiewesen vorhanden sein, das durch 338 Seiten trägt.

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