Brexit ist eine Wortkreuzung aus „Britain“ und „Exit“. Es wurde zum Umgangsname für den britischen Austritt aus der Europäischen Union nach dem Referendum vom 23. Juni 2016, in dem britische Wähler und Wählerinnen gefragt wurden: „Sollte das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?“ Als der „Brexit“ offiziell eingeleitet war, schrieben plötzlich viele, vor allem junge, Leute anti-Brexit-Gedichte. Wie kam es zu diesem plötzlich erwachten Interesse?

1. Hintergrund

Beim Referendum am 23. Juni 2016 stimmten 51,89 % der Wähler und Wählerinnen für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union („Brexit“). Die derzeit amtierende britische Premierministerin, Theresa May, leitete darauf am 29. März 2017 den Austrittsprozess gemäß Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union durch eine schriftliche Mitteilung an den Europäischen Rat rechtskräftig in die Wege.

Es war eine enge Sache. Beim Referendum durften alle wahlberechtigten Bürger und Bürgerinnen parteiübergreifend über die Frage „Bleiben“ (remain) oder „Nicht-Bleiben“ (leave) abstimmen. Die Ja- und Neinsager kamen aus allen Schichten, allen Alters- und Einkommensgruppen, allen Regionen. Zweiundfünfzig Prozent stimmten für das Lager der Austrittwilligen (the leave camp) und achtundvierzig Prozent für die, die bleiben wollten. Viele stimmten vermutlich ab, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein. Eindeutig gegen den Brexit positionierten sich nur die Liberaldemokraten unter Tim Farron.

Ein Liberaldemokrat, Tom Holder, war es auch, der die Hoffnung auf ein zweites Referendum schürte. In seiner Petition ging es darum, dass jeder und jede die Möglichkeit haben sollte, über seine/ihre Zukunft auf der Grundlage einer endgültigen Vereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu bestimmen. Als die Petition an Fahrt gewann, erschien auf Twitter der Hashtag #WriteAPoemAboutBrexit: Hunderte schrieben Verse, um ihre Ansichten über den Brexit auszudrücken, wobei die Mehrzahl (aber nicht alle) die ursprüngliche Abstimmung beklagte.

2. Anti-Bexit-Gedichte

Pro-Brexit-BefürworterInnen argumentierten, dass es wichtig sei, die Europäische Union zu verlassen, um die Identität Britanniens zu schützen oder sogar wiederherzustellen: seine Kultur, seine Unabhängigkeit und seinen Platz in der Welt. „Remain“-UnterstützerInnen waren anderer Meinung.

Viele der hier vorgestellten anti-Brexit-Gedichte (nicht alle) wurden in Young Poets Network  veröffentlicht, einer Plattform für junge Leute bis zum Alter von 25 Jahren. Diese jüngere Bevölkerung (18-24 Jahre alt) stimmte mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib in der EU.

Riz Moritz. No you (Theresa) May not be Cuddled“

Laut Anmerkung der Redaktion schrieb Riz das Gedicht am 20. Juli 2016 in London. An diesem Tag hatte Theresa May – die gerade ernannte britische Premierministerin – ihr erstes PMQ (Prime Minister’s Questions). PMQs sind Fragestunden des Parlaments, in denen Abgeordnete die Möglichkeit haben, den Premierminister, hier die Premierministerin, zu befragen.

Theresa May’s first PMQ
You Tube

Das Setting ist die Jubilee Line (!), eine U-Bahn-Linie der London Underground. Es ist heiß und stickig. Ein Banker bereut, sich einen heißen Starbucks geholt zu haben. Dann die Haltestelle: die Türen öffnen sich: „(a) gust of virgin, cooler, thinner unbreathed air.“ Theresa May steigt aus. Sie ist auf dem Weg zu ihrer ersten PMQ, von der Autorin kritisch kommentiert:

theresa may steps off for #‎PMQs
(first stand-up comedy must be nerve-wracking)

Sie hakt sich bei den Mitgliedern des neuen Kabinets unter. An der Haltestelle Westminster  herrscht Gedränge auf den Rolltreppen. Farbige Frauen versuchen zu helfen, sie lehnt ab. Interessant auch hier der kritische Kommentar:

women of colour offer a hand
witch rejects
falls into
blinding whiteness

Die Endzeilen lauten: „no you (theresa) may not be cuddled“ (im Deutschen etwa: „Du, Theresa, solltest nicht gehätschelt werden.“)

Krystina Mawer, „A Letter from the Youth of Britain“ 

„Little Britain“ ist der Titel einer Comedy-Serie. Er steht für eine Mischung von Great Britain und Little Britain. Die Anfangszeilen:

Little Britain is severed and splintered,
A country divided in two, …

In den „Wir-Modus“ wechselnd spricht die Erzählerin mit der Stimme der „Jugend Britanniens“: 

We weep for the union we’ve broken,
We mourn for the ties that we’ve torn …

Für sie steht die Europäische Union für eine auf Frieden gegründete Einheit (Unionunity), in die sie und ihre Generation hineingeboren wurden:

… a unity built on peace;
Into which we had been born.

Nele Petri,  „Borders to Big Ideas and Back“                    

Mit der europäischen Identität, die laut Meldungen der Boulevardzeitungen angeblich zu Ende sei, befasst sich auch Nele Petri. Sie kann sich mit dem Gedanken einer Trennung nicht anfreunden: 

The European idea is alive in me;
encoded so deeply in my border-blurring,
culture-crossing body
that i can’t really say where Europe ends
and i begin.

Sie komme aus dem „Herzen Europas“, sei ohne Grenzen aufgewachsen und habe dies bisher immer als selbstverständlich betrachtet. Sie habe gelernt, die europäische Identität zu lieben:

I come from the European heart,
a place that has showed me
only the best of the EU project,
i’ve grown up without borders and
i’ve taken that for granted for so long.

Nahezu erwachsen könne sie dieses „inhärente Europasein“ („inherent europeanness in me“) einfach nicht abschütteln:

I learned to love this European identity,
how couldn’t i when i’ve been raised
as the future of this idea for so long?

Dies auch nicht, obwohl die Idee alles andere als vollkommen („this deeply flawed fantasy“) sei.

Die Schlusszeilen:

even while other young Europeans like me
are forced out of their European identity,
are left to deal with the fallout, the shattering,
on their own
this big idea of last century
keeps living on in my bones.

Edwin Hopper: „Brexit“ 

„We want our country back“, „Believe in Britain“, “ Leave the EU“: Damit warben EU-Gegner für einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Kurz vor dem Referendum demonstrierten britische Fischkutter auf der Themse mit Slogans wie: „Fishing for Leave“ (deutsch in etwa: „Fischen für den EU-Austritt“), „Leave, Save our Country“ („Tritt aus, rette unser Land“) und „The Only Way is Brexit“ („Brexit ist der einzige Weg“). Hier setzt Edwin Hopper an mit einem scherzhaft-satirischen Strophengedicht in Couplets.

Die Anfangszeilen:

Course I hate this damned EU.
It’s time we had our Waterloo.
Stand beside the union jack,
and fight to take our country back.

Der „Union Jack“ steht für das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als einer Union verschiedener Nationen, was sich in der Form- und Farbgebung widerspiegelt.

Wie sähe ein Leben jenseits des Brexit aus? Antworten aus seinem Gedicht:

der „Morris Minor“,  jener Kleinwagen, den die Morris Motor Company von den späten 1940er bis in die frühen 1970er Jahre herstellte, feiert mit einer brandneuen Variante ein Comeback;

statt der neuartigen Mikrowellen-Snacks gibt’s die nach alter Art zubereiteten Toasts mit Bohnen („old fashioned beans on toast“);

man wird wieder den traditionellen Wettkämpfen der Cricket-Teams zuschauen, ausgetragen auf den Grünflächen der Gemeinde. Im sportlichen Wettkampf messen sich da jugendliche Hitzköpfe und erwerben dabei die Charakterstärke, die ihnen zu fehlen scheint; 

Die Beatles und der Rock ’n‘ Roll hätten die Seele des Landes mit Drogen vollgepumpt: „Wenn ich mein Land zurück habe, muss ich nicht noch mehr Anti-Depressiva (Prozac) nehmen, so der Erzähler:

I blame the Beatles, Rock and Role,
they drugged up our countries soul.
I won’t need to have more Prozac,
When I take my country back.

Wenn alles vorbei sei, werde man sich bei einem vernünftigen Bier zusammen setzen, im Bewussstsein, das Land zurückerobert zu haben.

Die Schlusszeilen:

We’ll be drinking decent beers,
up our high street, bashing queers.
Kick out strangers, no more blacks.
And then we’ll have our country back.

Kevin Higgins, „Exit“ 

Kevin Higgins ist ein irischer Dichter und Satiriker. Der Text erschien in Culture Matters (06 July 2016),  kurz nachdem das Ergebnis des Referendums feststand, wurde später u.a. in der Irish Times (Dec 5, 2017) eröffentlicht.

Die Anfangszeilen:

There will be no more thunderstorms
sent across the Channel by the French,
no acid rain floating in from Belgium.

Es folgt eine Auflistung absurder Szenarien. Higgins wechselt zwischen faktischer Sprache und persönlicher Ansprache:

Pizza Hut, das größte Pizza-Unternehmen der Welt, bietet auf seiner Speisekarte eine Auswahl von „ Yorkshire und „Yorkshire Pudding“ an;

Die freien Tagen werden damit zugebracht, alles abzubauen, was jemals bei IKEA gekauft wurde;

wer bisher Kaviar schätzte, wird mit Aal in Aspik  Vorlieb nehmen müssen;

Alle Pflastersteine, von Iren verlegt, werden rausgerissen;

Wer heimlich Spaghetti Bolognese macht, wird mit empfindlichen Konsequenzen rechnen müssen:

Those alleged to be involved in secretly
making spaghetti bolognaise
will be arrested and held
in a detention centre near Dover.

Die elektrische Dusche, die Pavel, der Klempner, montiert hatte, wird raus genommen und von einem Handwerker traditionellbritischer Herkunft wieder eingebaut:

The electric shower your plumber,
Pavel, put in last week will be taken out
and you’ll be given the number of a bloke
who’s pure Billericay.

Die gesamte königliche Familie wird zurück nach Bayern verfrachtet, mit Ausnahme
des Herzogs von Edinburgh, dem ein One-Way-Ticket nach Athen gegeben wird.

Die Schlusszeilen (übersetzt):

Wir geben Indien seinen Tee zurück,
hocken uns mit unseren rostigen Eisenhelmen
um kriegerische Lagerfeuer
,
unsere Humpen voll mit traditionellem nordischen Met.

3. Zur Kulturgeschichte der britischen Euroskepsis

Für James Dennison und Noah Carl (“The ultimate causes of Brexit“) waren tiefliegende Gründe für den Brexit entscheidend. Fremdenfeindlichkeit, Austerität und Unzufriedenheit mit der Politik könnten zwar das Zünglein an der Waage ausgemacht haben: zum Brexit-Votum sei es aber letztendlich dadurch gekommen, weil  das Vereinigte Königreich seit Beginn der am wenigsten integrierte EU-Mitgliedstaat gewesen sei, und weil, je näher sich die EU einer politischen Union näherte, der Brexit wahrscheinlicher wurde.

Dass die tieferliegenden Gründe bisher so wenig öffentlich diskutiert wurden, habe viel mit den Kommentaren in den Medien zu tun. Seit die britischen Wähler und Wählerinnen dafür gestimmt hätten, die Europäische Union zu verlassen, hätten viele Kommentatoren und Kommentatorinnen versucht, das Ergebnis des Referendums als Ergebnis einer irreführenden und demagogischen Kampagne, irrationaler Fremdenfeindlichkeit, sowie der Fiskalpolitik der Regierung zu erklären (und oft anzuprangern). Während einige dieser Erklärungen ernst zu nehmen seien, halten die Verfasser diese Gründe jedoch als unzureichend.

Es seien im wesentlichen vier Gründe, die ihrer Meinung nach für die Brexit-Entscheidung grundlegend gewesen seien:

Erstens, Großbritannien sei die einzige verbündete europäische Macht, die während des Zweiten Weltkriegs nicht besetzt war.

Zweitens, Großbritannien verfüge über ein Rechtssystem (common law legal system), das im Gegensatz zum zivilrechtlichen System Kontinentaleuropas stehe.

Drittens: Großbritannien habe eine etablierte Kirche als einer nationalen Institution unter der Leitung des Monarchen oder der Monarchin, die sich von einer internationalen Institution unter der Leitung des Papstes unterscheide.

Viertens sei Großbritannien eine Insel, deren umgebende Gewässer es teilweise von kulturellen Entwicklungen auf dem Kontinent isoliert habe.

Ausblick
Die Hoffnung auf ein zweites „Brexit“-Referendum ist noch nicht ganz vom Tisch. Sollte es dazu kommen, wird es darum gehen, Wähler und Wählerinnen über die zwischenzeitlich von der britischen Regierung ausgehandelten Bedingungen für einen Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU abstimmen zu lassen. Es wäre dem UK, aber auch der EU zu wünschen.

Literatur

„Separatism.“ Wikipedia

Dennison, James and Noah Carl. “The ultimate causes of Brexit: History culture, geography“. London School of Economics

Menden, Alexander. „Der Countdown: Warum die Brexit-Gegner sich plötzlich für Lyrik begeistern. Süddeutsche Zeitung (17. März 2017)

Taub, Amanda. „Brexit, Explained: Seven Question about what it means and why it matters.“ New York Times (June 20, 2016)

 

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