Je bedrohlicher die Realität, desto mehr Utopien brauchen wir
Utopien fassen Wünsche und Träume zusammen, geben Ausblick auf eine mögliche Zukunft und motivieren zum Aufbruch in eine andere, bessere Welt. Als konkrete Wegweiser dienen Utopien zwar nicht, dennoch können sie Signalgeberinnen zum Gestalten einer zukünftigen Wirklichkeit sein. Gesellschaftliche Innovationen kommen nicht ohne dahinterliegende Utopien zustande. Je bedrohlicher die Realität, desto stärker sind Utopien gefragt.

Utopischen AutorInnen wird heute gern von jenen, die es nicht so mit Utopien haben, schnell Naivität unterstellt, denn die Realität sei viel zu komplex, um in eine zukunftsfähige Utopie gepresst zu werden. Solcherart Unterstellungen verkennen den Erkenntniswert von Utopien. Utopien sind keine Rezepturen für die Gestaltung von Wirklichkeit.

Ernst Blochs „Konkrete Utopien“
Der utopische Gedanke beruht auf der Prämisse, dass der Mensch durch Vernunft und Intelligenz in der Lage ist, sich eine ideale Gesellschaft vorzustellen, in der jeder und jede Einzelne Erfüllung finden kann, ohne das Glück und das Wohlergehen anderer Mitglieder der Gesellschaft zu behindern. Der Philosoph Ernst Bloch (1885 – 1977) schlug mit seinem Begriff der „Konkreten Utopie“ eine Zugangsweise vor, die anthropologisch verankert ist. Die Bezeichnung „konkret“ bedeutet nicht, dass sie realisierbar ist, sondern dass die Voraussetzungen für ihre Realisisierung gegeben sind. Für ihn sind Utopien keine puren Gedankengespinste. Bloch entwickelte den Begriff der „konkreten Utopie“ im Gegenzug gegen die marxistisch-leninistische Abwertung der frühsozialistischen Utopien als “abstrakt“. In der Utopie sieht Bloch kein weit entferntes, scheinbar unerreichbares Ideal, sondern einen Teil der Realität selbst, basierend auf einem utopischen Impuls, der allen Zukunftsvorstellungen innewohne. Konkret-Utopisches äußere sich z.B. in Spielen, der Schulmedizin, den Mythen, der Massenunterhaltung, der Ikonographie, der Technologie.

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Grasberger, Lukas. „Eine Zeitreise in die intelligente Stadt der Zukunft“

„Masdar, the City of possibilities“ (Video)

Masdar City, Abu Dhabi (Wikipedia).

Songdo: Zukunft oder totaler Überwachungshorror?

Songdo (Wikipedia)

Fujisawa SSC Video

Fujisawa Sustainable Smart Town (SST): Official site

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„Smart Cities“: Eine Reise zu den “intelligenten Städten der Zukunft“
Sind Smart Cities die Verwirklichung „konkreter Utopien“? Im Blickpunkt stehen Elektroniklösungen und komplexe IT-Systeme, die – als Gesamtsysteme – versprechen, nachhaltiges Leben in einer digitalisierten Stadt zu verwirklichen. Überall auf der Welt wird am Konzept der smarten Stadt gearbeitet, um, so die InitiatorInnen, das Leben der dort Wohnenden bequemer, sicherer und energieeffizienter zu gestalten. Die intelligente Vernetzung macht große Datenmengen nutzbar, mit denen sich Funktionalität, Effizienz, Qualität, Sicherheit und Komfort in allen Lebensbereichen steigern lässt. Wer sind die neuen Städtebauer und wohin führt das alles?

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat Smart Cities als „CO2-neutrale, energie- und ressourceneffiziente und klimaangepasste Städte von morgen“ definiert. (Wettbewerb Zukunftsstadt)

Unter Berücksichtigung des demografischen Wandels bietet das Konzept der intelligenten Städte („Smart Cities“) Lösungsansätze zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen. Auf der Basis integrierender IuK2-Technologien, neuer Wertschöpfungszusammenhänge und des zivilgesellschaftlichen Engagements der Bürgerinnen und Bürger trägt es dazu bei, in Städten erbrachte Dienstleistungen sowie die damit verbundenen Prozesse nutzer- und kundengerecht, jederzeit sicher, vertrauenswürdig und in hoher Qualität verfügbar zu machen. Es zielt auch darauf, mittels Dienstleistung eine stärker in Kreislaufprozessen organisierte urbane Wertschöpfung zu ermöglichen und gleichzeitig damit die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger sowie die Wettbewerbsfähigkeit der urbanen Wirtschaft nachhaltig zu erhöhen. (mehr dazu)

Masdar (Abu Dhabi): Stadt der Zukunft

MasdarCity_AbuDhabiMasdar City: Tradition trifft auf Moderne  (Quelle) xx

Masdar City wurde 2009 als „Null-Emissions-Stadt in der Wüste“ geplant. Das Emirat Abu Dhabi, Nachbarstaat des verschwenderischen Dubai, setzte auf ein Energiesparprojekt der Superlative. Es sollte die erste Öko-Stadt der Welt werden, die ausschließlich auf Solarenergie und anderen erneuerbaren Energiequellen basierte mit einem Null-Kohlenstoff-Ausstoß und einer Ökologie ohne Abfälle. Der mit dem Entwurf beauftragte britische Stararchitekt Sir Norman Foster griff dabei auf traditionelle arabische Städtebautechniken zurück. Die Häuser waren so gebaut, dass sie die öffentlichen Wege beschatteten und sich gegenseitig Schatten spendeten – was die durchschnittliche Temperatur in Masdar City um 20 Grad Celsius niedriger halten sollte. Zur Klimatisierung der Häuser sollte die Kühle aus tieferen Erdschichten genutzt werden und aufbereitetes Brauchwasser zur Bewässerung von öffentlichem Grün und Äckern dienen.

Maßgeblich beteiligt am Bau der Ökostadt Masdar in den Vereinigten Arabischen Emiraten war der deutsche Technologiekonzern Siemens. SkeptikerInnen gaben von Anfang an zu bedenken, dass die Öko-Stadt für Abu Dhabi nur ein Prestigeobjekt werden könne, eine luxuriöse Entwicklung für Reiche.

Was wurde aus den hochgesteckten Zielen? Laut The Guardian lebten 2016 rund 300 Studierende in Masdar, von den Bauvorhaben seien etwa nur 5% realisiert geworden. Viele Investoren waren abgesprungen. Auch das Ziel, absolut emissionsfrei zu sein, habe man mittlerweile verworfen.

Songdo (SüdKorea): Die Stadt, die mitdenkt
Die
ebenfalls auf dem Reißbrett entstandene Vorzeige-Stadt Songdo war als Entlastung für die Hauptstadt Seoul geplant. Die verbaute Technik sollte das Leben der dort lebenden Menschen ressourcenschonend, umweltfreundlich und komfortabler gestalten. Zur Geschichte Judith Lembke:

Hier, im Watt des Gelben Meeres, kaum 100 Kilometer von der nordkoreanischen Grenze und keine Flugstunde von China entfernt, wurden seit der Jahrtausendwende 500 Millionen Tonnen Sand ins Watt geschüttet, um ein ostasiatisches Utopia zu bauen: Bis 2020 soll hier die „smarteste“ Stadt der Welt entstehen: mit einer Straßenbeleuchtung, die nur anspringt, wenn auch Menschen unterwegs sind. Ampeln richten sich nach dem Verkehrsaufkommen. Und Müllfahrzeuge sucht man in Songdo umsonst, denn der gesamte Abfall wird über ein unterirdisches Rohrsystem entsorgt, sortiert und recycelt.

Wie lebt es sich in Songdo?
Das Propaganda-Video zeigt die 46-jährige in Song Do lebende Juyeon Jung. Bevor sie nach Songdo zog, war sie Kosmetikberaterin. Jetzt kann sie fast alles von ihrer Wohnung aus erledigen, vor allem ihre Beratungen. In einem virtuellen Forum können sich die BewohnerInnen untereinander austauschen. Was früher an Gesprächen auf der Straße zwischen Nachbarn statt fand, hat sich in Songdo ins Stadt-interne Intranet verlegt. Eine Kamera, eingebaut in den Fernseher im Wohnzimmer, macht den Kontakt zur Außenwelt möglich. Vor die eigene Tür zu gehen ist nicht mehr nötig. „Zu Hause zu sein ist hier viel angenehmer“, sagt Juyeon Jung.

Das sagen aber nicht alle. Judith Lembke hat mit BesucherInnen gesprochen, u.a. mit Hye-Jin, einer Vertreterin der jungen Generation von Koreanern um die 30, die das Handy niemals aus der Hand legen. Sie ist mit ihrem Freund aus Seoul zu Besuch gekommen. Ob sie sich vorstellen könnte, hier zu leben? Sie schüttelte vehement den Kopf. „Es ist zwar schön grün hier, aber total tot“. Nach einem Essen in einem Barbecue-Restaurant wollten die beiden eine Zigarette rauchen. Dann aber bemerkte der Freund eine Kamera. In der Öffentlichkeit beim Rauchen erwischt zu werden konnte teuer werden, also stiegen die beiden wieder ins Auto, auf der Suche nach einem unbewachten Plätzchen. Sie fuhren durch leere Straßen, vorbei an noch unbebauten Brachflächen, aber trauten sich nicht, irgendwo auszusteigen: überall waren Kameras. Am Ende zündeten sie sich ihre Zigaretten im Auto an. Auf der Fahrt zurück nach Seoul. (Besuch in der Zukunftsstadt Songdo)

Maßgeblich verantwortlich für die Planung von Songdo City war Cisco, weltweit führender Anbieter im IT-Bereich, der Unternehmen dabei unterstützt, die Chancen einer vernetzten Zukunft bereits heute zu nutzen.

Fujisawa Sustainable Smart Town (SST)
Nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 konzentrierten sich japanische Firmen verstärkt auf die Nutzung alternativer Energien, um den Bedürfnissen der Zukunft gerecht zu werden.

Fujisawa Sustainable Smart Town in der Nähe von Tokio wurde von einem von Panasonic angeführten Konsortium aus 18 Firmen gebaut. Anfang 2014 zogen nach nur zwei Jahren Bauzeit die ersten von insgesamt 3.000 Bewohnern in die nachhaltige Stadt ein. Das ambitionierte Ziel der Planer: Die Stadt solle mindestens für die folgenden 100 Jahre nachhaltig sein.

Die Fujisawa-Siedlung war als Vorzeigeobjekt geplant. Die Wege sind so angelegt, dass sie der Wind durchweht, um im Sommer für Kühlung zu sorgen. Für den Bodenbelag wurde ein Material gewählt, das – je nach Temperatur – Wärme absorbieren oder abgeben soll. Wichtigstes Anliegen, so die Entwickler, sei die Energieeffizienz. Seit 2011, als auf den Tsunami eine Atomkatastrophe folgte, gehört die nachhaltige Energienutzung zu den umstrittendsten Fragen des Landes.

Wie lebensnah und lebenswert sind die Smart Cities?
Die Kritik an den smarten Modellstädten reichte von der Warnung vor internen Sicherheitsrisiken bis hin zu einer generellen Kritik des Konzepts. Die drei Smart Cities werden von einem riesigen „Zentralhirn“ gesteuert, das für Hacker extrem anfällig ist. Man muss nur einen Punkt angreifen und schon lässt sich das ganze System lahmlegen. „Sollte es möglich sein, über einen ausgeklügelten Hacker-Angriff die komplette Infrastruktur einer Smart City lahmzulegen oder diese fernzusteuern, wird aus einem zukunftsweisenden Projekt eine allzu leichte Zielscheibe für Cyber-Kriminelle“, sagte damals Ksenia Stroganova, eine in Berlin lebende Expertin.

Die Sicherheitsrisiken werden sich auch Dauer durch IT-Spezialisten beheben lassen. Bedenklicher ist jedoch der Ansatz. Bei den drei besuchten Smart Cities handelt es sich um von bekannten IT-Konzernen entwickelte zentralistische Top-Down-Projekte. Als „Experten“ fungierten Multitechnikkonzerne: Siemens, IBM, General Electric, Toshiba, Fujitsu oder Hitachi. Ein Blick auf die Geschichte von Fujisawa SSC macht die Crux deutlich. Dazu Felix Lill:

Ab den 1960er Jahren unterhielt das Unternehmen auf diesem 19 Hektar großen Gelände eine Fabrik für Fernseher, Ventilatoren und Kühlschränke. Als das Geschäft aber kollabierte und die Anlage für einige Zeit brach lag, kam die Konzernspitze 2007 auf eine neue Idee: Die verschiedenen Geschäftsfelder wie Robotik, Konsumentenelektronik oder Mobilitätstechnologie könnte man zu einem neuen Projekt verschmelzen.

Und was bekommt man, wenn IT-Konzerne die Stadt von morgen planen? In Fujisawa ist für alles gesorgt. Die Wohneinheiten sind mit höchstem Komfort ausgestattet. Überwachungskameras versprechen höchste Sicherheit. So muss man sich nicht um Kinder Gedanken machen, wenn sie abends allein unterwegs sind: Sie tragen Überwachungschips am Körper, die sie jederzeit orten und ihre Daten an eine Zentralstelle, das „Superhirn“, senden. Dort werden sie von Kontrolleuren mit möglichen Gefahren abgeglichen. Sollte Gefahr im Verzug sein, läuten in der Zentrale die Alarmglocken. Und was verliert man?

Das Rundum-Sorglos-Paket stumpft ab. Kameras und permanente Video-Überwachung täuschen eine gefühlte Sicherheit vor. Dadurch verlieren die Smart-City-Bewohnerinnen die Fähigkeit, selbst und frei Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. So haben beispielsweise Kinder keine Chance zu lernen, in Kenntnis möglicher Gefahren selbst abzuschätzen, wie sie am besten Gefahrenrisiken vermeiden können. Auch im kreativen Bereich bleibt wenig Raum für die Entfaltung von Eigeninitiativen. Ein fertiges Programm von Freizeitangeboten steht jederzeit zur Nutzung zur Verfügung. Der kreative Wettbewerbsinstinkt ist auf das Ziel fokussiert, durch zusätzliche, selbst finanzierte Energiesparinvestitionen mit dem eigenen Erfolg andere Smart City Bewohnerinnen zu übertreffen. Allseits bekannte städtische Probleme wie materielle Armut, soziale Spaltung und Ausgrenzung sind non-existent. Die smarten Städte gleichen hierin den sog. Gated Communities, jenen abgeschotteten Wohnbezirken, die aus gewaltgeplagten Großstädten wie Miami, Kapstadt oder Rio bekannt sind.

Haben die klassischen Utopiethemen ausgedient?
Das Ideal einer geplanten Stadt entstand geschichtlich zu einem Zeitpunkt als Utopisten grenzenloses Vertrauen in Modernisierung und Wachstum hatten. Historisches Beispiel ist Edward Bellamy (Looking Backward 2000-1887 (1888), da sich als ein Stadtplanungstext lesen lässt. Darin ist von vielerlei Themen die Rede: die Nutzung des Bodens, von Industrie, Handel, Wohnraum, und auch den Annehmlichkeiten des Lebens. Bellamy spricht auch die heute immer noch verwirrenden Fragen von Armut, Erziehung und der Herausbildung ökonomischer Schichten an. Er sah auch die Notwendigkeit einer gezielten Umweltplanung voraus: Dazu mussten die Slums von Boston, Ort seines utopischen Szenario, beseitigt, Krankheiten vermieden und die Industrieabfälle reduziert werden. Sein zukunftsreisender Protagonist, Julian West, nach seinen ersten Eindrücken des neuen Boston befragt, nannte die Abwesenheit von Schornsteinen und deren Rauchemissionen. Er habe sich spontan an das Elend erinnert, die übelriechenden Teile der Stadt und die bleichen Gesichter der damligen Textilarbeiter. Ihm wird erzählt, was in der Zwischenzeit stattgefunden hätte: Man hätte u.a. die Verbrennung von Rohstoffen eingestellt. Auch habe man die Abwässer im Griff. Ein Zitat:

Julian West could see the Charles River, a “ blue ribbon winding away to the sunset,” and to the east was the harbor, “not one of its green islets missing.” West’s initial notice of the absence of smokestacks, coupled with Bellamy’s first (and almost his only) physical description of the city, pointed up one of the most striking facts about Boston in the year 2000. The new city was park-like, even pastoral, in character. The entire apparatus of industrialism was kept sedulously out of sight, and the landscape, both physical and social, had come to look quite pre-industrial. (Jackson Wilson)

Bellamy war weder Maschinenstürmer, noch propagierte er eine rückwärtsgewandte Ökonomie. Zwar lehnte er die Bedingungen ab, unter denen Menschen in den Textilfabriken arbeiteten, sah aber auf der anderen Seite auch das Potenzial, das in den Fabriken steckte, wenn nur der Ertrag dem Wohl des gesamten Gemeinwesens zugute käme.

Bellamys Vision blieb – auch in seiner Zeit – nicht unwidersprochen. Schärfster Kritiker aus den eigenen Reihen war William Morris (News from Nowhere, 1890), der nicht nur die Technologiegläubigkeit Bellamys bezweifelte, sondern auch den gesellschaftlichen Kontext, in dem seine Utopie stattfand:

[Bellamy] erzählt uns, dass jeder Mensch frei sei, seine eigene Beschäftigung zu wählen und dass Arbeit keine Last sei; der Eindruck, den er jedoch hinterlässt, ist der einer riesigen Armee, die – von einem geheimnisvollen Schicksal gedrillt – permanent Angst erzeugt, damit Waren produziert werden, die jede Laune befriedigen, wie verschwenderisch und absurd auch immer. … … der vermehrte Einsatz von Maschinen wird nur die Maschinerie vergrößern; ich glaube, dass das Ideal der Zukunft nicht in Richtung auf Minderung menschlicher Energie durch Reduktion der Arbeit auf ein Minimum weist, sondern vielmehr darauf gerichtet ist, die Strapazen, die mit Arbeit verbunden sind, auf ein Minimum zu reduzieren, dergestalt, dass sie nicht mehr als Schmerz wahrgenommen werden. (Morris, „Bellamy’s Looking Backward.“, meine Übersetzung)

Heute übernehmen digital gesteuerte Roboter einen Großteil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Das ist auf der einen Seite ein Vorteil, weil es körperliche Extremarbeit reduziert. Der Einsatz von Arbeitsrobotern ist jedoch auch begleitet von Massenarbeitslosigkeit für die einen, die ihren Job verlieren und einem unerbittlichen Arbeitsterror für die anderen, die um die verbleibenden Arbeitsplätze kämpfen müssen.

Eine unlängst veröffentlichte Oxfam-Studie („Für eine gerechte Gesellschaft – ohne Armut“. 2017) kam folgendem Ergebnis: „Acht Milliardäre besitzen genauso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.“ Daraus zog Oxfam die politische Forderung: “Wir brauchen endlich eine Politik, die Menschen statt Profite in den Mittelpunkt stellt!“ Ein solcher Appell stößt in der Politik jedoch auf Widerstand: marktkonformes Verhalten gilt heute als common sense.

Die literarische Utopie: ein komplexes und höchst sensibles Kommunikationsmodell
Fiktionale Literatur bildet Wirklichkeit nicht eins zu eins ab. Ihre AutorInnen entwerfen unterschiedliche Szenarien (settings), erfinden ProtagonistInnen (characters), die sie mit mal mehr, mal weniger sympathischen Merkmalen ausstatten, und sie berichten von den fiktiven Schauplätzen und Interaktionen fiktiver Charaktere über einen Erzähler oder eine Erzählerin, die je nach Insiderwissen und eigenen Überzeugungen (point of view, POV) mal mehr, mal weniger kritisch involviert sind.

Fiktionale Literatur kann unterschiedliche Zeitfenster aufmachen, kann durch Rückblenden von Vergangenem erzählen und kann durch Vorausblenden zeigen, wie eine wünschenswerte Zukunft aussehen könnte. Bekanntes Beispiel aus der Utopiegeschichte ist Edward Bellamys Looking Backward, 2000-1887 (1888). Ein junger Aristokrat aus Boston lässt sich aufgrund von Schlafstörungen in einen Hypnoseschlaf versetzen und wacht nach 113 Jahren – wie durch ein medizinisches Wunder ungealtert – in einem zukünftigen Boston auf, in dem entscheidende Entwicklungen stattgefunden haben.

In fiktionaler Literatur kommt der Erzählperspektive besondere interpretatorische Bedeutung zu. Klassisches Beispiel aus der Utopiegeschichte ist Thomas Morus‘ Roman Utopia (1516). Bevor es zum eigentlichen Bericht über Inhalte kommt, wird die Quelle des Berichtes erörtert. Es geht um den angeblich wahren Reisebericht eines Seefahrers, der vorgibt, ein ideales Staatswesen auf einer fernen Insel entdeckt zu haben. Der Verfasser des Berichtes sei ein gewisser “Raphael Hythlodaeus“, ein Witzname, zusammengesetzt aus zwei griechischen Vokabeln (hýthlos = Geschwätz; dăios = kundig), was so viel wie „Freund des Geschwätzes“ bedeutet.

Ein anderes Beispiel, das die sensible Handhabung der Erzählperspektive bezeugt, lässt sich in Ursula Leguins Roman Planet der Habenichtse (The Dispossessed. An Ambiguous Utopia, 1974) beobachten. Der Roman spielt im erdachten „Ekumen-Universum“: Er handelt von den unterschiedlichen Lebensweisen auf dem Doppelplaneten Urras und Anarres. Während die Berichterstattung über das Leben auf Anarres eher kritisch-distanziert ist, fehlt eine ähnlich kritisch-distanzierte Darstellung des Lebens auf dem Planeten Urras. Hinter dieser unterschiedlichen Handhabung der Erzählperspektive steckt ein entscheidendes Statement der Autorin: Zum Leben in Urras gibt es keinen Gesprächsbedarf. Das dort geschilderte Leben hat sich geschichtlich überholt. Wohl aber gibt es Gesprächsbedarf zum Leben auf Anarres.

Utopie oder Dystopie
Die Dystopie ist ein Derivat der Utopie. Beide Genres erforschen auf ihre Art soziale und politische Strukturen eines zukünftigen Zusammenlebens. Utopie und Dystopie sind nicht diametral entgegengesetzt. Die Dystopie ist immer auch schon ein Stückweit Utopie (utopia-in-dystopia) und die Utopie auch immer schon ein Stückweit Dystopie (dystopia-in-utopia).

Dystopien seien leichter zu schreiben als Utopien. So Kim Stanley Robinson, selbst Autor von utopischen Romanen (2312)

Man müsse nur die Schlagzeilen der Nachrichten zu einer Collage zusammenfügen und schon habe man das Handlungskonzept für eine Dystopie. Utopien seien jedoch ungleich schwerer zu schreiben: Es käme darauf an, sich eine Zukunft vorstellen und literarisch greifbar zu machen, von der man später – als Autor oder Autorin – seinen Kindern sagen könne, man habe das Beste versucht, oder zumindest etwas, das mindestens ebenso gut sei wie das, was man selbst vermittelt bekommen habe. („A Real Joy to be had. Kim Stanley Robinson Interviewed by Terry Bisson„).

Die Utopie und die Entzauberung der „neo-liberalen Welt“

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Die Pyramide des kapitalistischen Systems: Cartoon-Karikatur aus dem Jahr 1911.  (Quelle)

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Utopien resultieren eher aus progressivem linken Denken. In konservativen Kreisen erscheinen sie meist suspekt. Um eine Begründung gebeten kommentierte der Utopieforscher Richard Saage so:

Konservatives Denken ist meist dem sozioökonomischen Istzustand verpflichtet, während die politischen Utopien genau diesen verändern wollen. Zwar streben auch aufgeklärte Konservative Veränderungen an. Aber sie sind meist moderat und dienen lediglich dazu, den Status quo ante wiederherzustellen, (“Brauchen Menschen Utopien?“ Greenpeace Magazin Ausgabe 1.14)

Es ist jetzt leichter, sich das Ende der Welt als sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen schrieb der Kulturtheoretiker Fredric Jameson in „Future City“ (Fredric Jameson, New Left Review 21 (May-June 2003).

Utopien ließen sich nicht nach dem Scheitern oder Nichtscheitern ihrer Realisierungsversuche bemessen. Ihr Erkenntniswert sei ein anderer. Nach Jameson haben es Utopien mit Versagen zu tun. Sie konfrontierten uns mit den Grenzen und Schwächen unseres eigenen Denkens.

Jameson schreibt (in der Übersetzung von Millay Hyatt) :

Der erkenntnistheoretische Wert der Utopie liegt darin, dass sie uns die Mauern spüren lässt, die unseren Geist umschließen, die unsichtbaren Grenzen, die sie uns durch bloße Induktion zu erkennen gibt, sowie die Art und Weise, in der unsere Einbildungskraft an der Produktionsweise selbst festhängt, im Schlamm der Gegenwart, in der unsere utopischen Flügelschuhe stecken, überzeugt davon, es handele sich um die Schwerkraft an sich.

Aus der Rückschau haben auch die erdachten Gegenbilder der Vergangenheit ihre Schwächen. Jameson schreibt:

… Utopische Zukunftsbilder der (sind) (ebenso wie die Perspektive selbst) konstitutiv um einen toten Winkel oder einen Fluchtpunkt organisiert, im Fall von Thomas Morus in die Unfähigkeit, sich den Kapitalismus und den Markt vorzustellen. Aber die Situation von Morus war die einer vorkapitalistischen (traditionalistische und antikapitalistischen) Vorausschau auf eine Produktionsweise, die erst zu seiner Zeit in systematischer Weise in Erscheinung trat.(Jameson, “Utopia and Failure. Politics and Culture 2 , 2000 (August 10, 2010)

Der Sprung in die Gegenwart. Eine unlängst veröffentlichte Oxfam-Studie (Für eine gerechte Gesellschaft – ohne Armut. 2017) kam folgendem Ergebnis: „Acht Milliardäre besitzen genauso viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.“ Daraus zog die Internationale Entwicklungsorganisation Oxfam die Konsequenz: “Wir brauchen endlich eine Politik, die Menschen statt Profite in den Mittelpunkt stellt!“ Ein solcher Appell stößt jedoch nur auf ein begrenztes Verständnis: Marktkonformes Verhalten gilt im Zuge des globalisierten Neo-Liberalismus als neuer common sense. Ein Fixpunkt für aktuelle utopische Gegenentwürfe ist die Entzauberung des neo-liberalen Glaubensbekenntnisses.

Utopien tun weh. Sich von den Prämissen zu trennen, die das eigene Geflecht von als selbstverständlich akzeptierten Glaubenssätzen betreffen, ist immer auch schon von Verlustängsten begleitet.

Gefährliches Streben nach utopischer Perfektion
In seinem Roman Brave New World (1932; deutscher Titel Schöne neue Welt) nutzte Aldous Huxley als Motto ein französisches Zitat des russischen Philosophen Nicolai Berdjajew (1874-1948):

Utopien scheinen realisierbarer je zuvor. Jetzt sind wir mit einer quälenderen Frage konfrontiert: Wie können wir ihre endgültige Verwirklichung verhindern? Utopien sind realisierbar. Das Leben weist in Richtung Utopie. Und vielleicht wird ein neues Jahrhundert beginnen, in dem Intellektuelle und die gebildeten Schichten davon träumen, wie Utopien vermieden werden können zugunsten einer Rückkehr zu einer nicht-utopischen Gesellschaft, die weniger perfekt, dafür aber freier ist. (Meine Übersetzung)

Berdjajews Botschaft lautet nicht, „wann können wir eine perfekte Welt haben und alle unsere globalen Probleme lösen“, sondern „Wie können wir die Welt davon abhalten, perfekt sein zu wollen?“ Seine Befürchtung war, dass – wenn die Voraussetzungen bestehen, Utopien real werden zu lassen, bei den Verantwortlichen das Gespür dafür abhanden kommt, wann ihre ambitiösen Perfektionsprojekte realitätsfern werden. Dann könne in der Tat eine „utopische“ Wirklichkeit entstehen, die aber auch eine zutiefst unfreie wäre.

Bibliographie

Bellamy, Edward. Looking Backward: 2000-1887. New York: The Modern Library, 1982.

Cantzen, Rolf. „Tu, was du willst! Utopien der Freiheit.“ Radio Bayern2 (15.07.2015)

Grasberger, Lukas. „Smart Cities: Eine Zeitreise in die intelligente Stadt der Zukunft“. Radio Bayern 2

Greenpeace. “Brauchen Menschen Utopien? Gespräch mit Utopieforscher Richard Saage.“ Greenpeace Magazin 1.14

Hyatt, Millay. “Von der Insel aufs Festland: Über das produktive Scheitern von Utopien“ Deutschlandfunk (22.04.2011)

Jameson, Fredric. “Utopia and Failure“. Politics and Culture 2000:2 (August 10, 2010)

Jameson, Fredric. „Future City“. New Left Review 21 (May-June 2003)

Jüttner, Daniel. „SDGs: 17 Ziele für eine nachhaltige Welt.“ Brot für die Welt.

Lill, Felix. “Fujisawa ist die erste voll funktionierende Smart City“ Badische Zeitung (23. Dezember 2015).

Minor, Dennis. „Looking Backward at Progress and Poverty: Edward Bellamy and Henry George Look at the Future.“

Morris, William. News from Nowhere (1890)

Wilson, Jackson. “Experience and Utopia: The Making of Edward Bellamy’s Looking Backward.“ Journal of American Studies 11.1 (April 1977)

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