- Thinking about the future – shaping the present: What can utopias contribute
- Thomas Morus, „Utopia“: Vision eines besseren Lebens im frühneuzeitlichen England
- Umweltfreundlich und sozial stabil: Ernest Callenbach, Ecotopia (1975)
- Fortschritt als Verwirklichung von Utopien: Welche Utopien brauchen wir heute?
- Zurück in die Zukunft: Edward Bellamy, Looking Backward 2000-1887 (1888)
- Werte auf dem digitalen Prüfstand: Dave Eggers, „The Circle“
- Margaret Atwoods Klassiker The Handmaid’s Tale (1985) – neu gelesen
The Circle – 2013 veröffentlicht – ist ein Roman von Dave Eggers über einen fiktiven, weltweit operierenden, Giga-Konzern, der seinen Internet-affine Kund_innen verspricht, das Leben einfacher, bequemer, sicherer und sozialer zu gestalten. Darin geht Eggers (“About Dave Eggers“) der Frage nach, was passieren könnte, wenn einem Superkonzern gelänge, die Geschäftsfelder von Google, Twitter, und Facebook zusammenzulegen. Die Firmenethik besticht. In den Worten des charismatischen Firmenchefs: Man setze auf die Vervollkommnung menschlicher Wesen (the perfectibility of human beings). Der Roman wurde zu einem – ambivalenten – Millionen-Bestseller. War er diesen Hype wert?
Zur Story
Bild: Google Park, Mountain View, Kalifornien. Außerhalb des Gebäudes hat Goggle im sog. Android Park Statuen mit verschiedenen Figuren platziert, die Versionen seines berühmten Android-Betriebssystems repräsentieren sollen.
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Erzählt wird die Geschichte von Maebelline „Mae“ Holland, einer College-Absolventin, die nach ihrem Psychologiestudium eine Stelle bei „The Circle“ antritt. Vermittelt wurde sie ihr durch Annie, ihrer besten Freundin und früheren Zimmergenossin aus College-Zeiten, die inzwischen eine der 40 einflussreichsten Personen des IT-Unternehmens („The Gang of 40″) worden ist. Mae beginnt zunächst in der Kundenbetreuung (“Customer Experience“, ehemals “Customer Service“), steigt dann aber durch ihr Engagement am Arbeitsplatz schnell in der Firmenhierarchie auf. Was folgt, ist die langsame aber stetige Entwicklung der Protagonistin zu einer begeisterten Vorzeigefrau des Unternehmens
Nichts kann sie aufhalten: weder ihre Eltern, die Maes Entschluss, für The Circle zu arbeiten, mit Skepsis begegnen, noch ihr Ex-Freund, Mercer, den sie durch ihre Aktionen in den Selbstmord treibt, und letztendlich auch nicht der Konzern-Gründer selbst, der mysteriöse Kalden, den die Sorge umtreibt, dass sich seine einst gutgemeinte Idee in ihr Gegenteil verkehrt habe. Anfänglich kann sich Mae noch den Gegensatz zwischen einem Leben innerhalb des „Circle“ und einem Leben außerhalb des Firmencampus vorstellen, dann aber verwischen sich die Grenzen. Am Ende ist Mae nur noch der menschliche Roboter, der eingespeiste Informationen geistlos abspult.
Eine Art Utopie
Bild: Apples Spacecraft. Offline konkurrieren die großen IT-Konzerne um die Zukunft der Unternehmensarchitektur. Ihre Gebäude sind leistungsstarke Marketing-Tools, entworfen, um zu reflektieren, was jeden Tech-Riesen einzigartig macht. Der Entwurf des „Apple Raumschiffs“ stammt vom britischen Star-Architekten Sir Norman Foster.
Der charismatische Mitfirmeneigner Bailey verdeutlicht Arbeit und Mission von The Circle mit dem Hinweis auf das Unternehmenslogo:
Ein Kreis ist die stärkste Form im Universum. Nichts kann ihn schlagen, nichts kann ihn verbessern, nichts kann perfekter sein. Und wir wollen perfekt sein. Deshalb: Alle Informationen, die uns entgehen, alles, was uns nicht zugänglich ist, verhindert, dass wir perfekt sind. (Meine Übersetzung)
… und weiter
… Ich glaube an die Vollkommnung der Menschen. Ich denke, wir können vollkommen sein. Wir sind nahe dran. Und wenn wir unser Bestes tun, sind die Möglichkeiten endlos. Wir können jedes Problem lösen. Wir können jede Krankheit heilen, den Hunger beenden, alles, weil wir uns nicht von all unseren Schwächen belasten lassen, unseren kleinen Geheimnissen, unseren gehorteten Informationen und unserem Wissen. Wir werden endlich unser Potenzial erkennen.
Das von Tyler („Ty“) Alexander Gospodinov, alias Kalden, sechs Jahre zuvor gegründete Unternehmen gilt als innovativ, sozial und ökologisch engagiert: Es gibt lichtdurchflutete Büros, High-Class-Restaurants, in denen renommierte Profi-Köche Mahlzeiten kostenlos für die Mitarbeiter kreieren, Gratis-Konzerte am Freitag, bei denen internationale Popstars auftreten, anschließende Partys. The Circle, so die Firmenmission, solle nicht nur ein Ort der Arbeit, sondern auch ein Ort der Menschlichkeit sein. Das Unternehmen stellt für seine MitarbeiterInnen – 10 000 Menschen arbeiten auf dem Campus – Übernachtungseinheiten zur Verfügung, wenn’s einmal spät wird. Alle MitarbeiterInnen haben kostenlos Zugang zu den Fitnessstudios.
Für die Welt außerhalb des Campus verspricht The Circle Bequemlichkeit, Sicherheit, Kommunikation. Es gibt nur einen Account, ein Profil und ein Passwort für die Nutzung aller Dienstleistungsprogramme. Avatare und falsche Identitäten werden nicht akzeptiert. Da Anomymität nicht geduldet wird, reduzieren sich beleidigende Kommentare, die sich zuvor im Schutz der Namenslosigkeit tummelten.
Die „schöne neue Welt“ des Giga-Konzerns
Die Analogien zu Orwells 1984 sind offensichtlich. Mit immer neuen technologischen Fortschritten soll eine Welt der völligen Transparenz geschaffen werden.
Transparenz spielt in der heutigen Unternehmenskultur eine wichtige Rolle. Es geht nicht nur um die Vermarktung von Produkten, sondern auch um die Vermarktung von persönlichen Geschichten, die Sympathien wecken und Vertrauen schaffen sollen. Auch The Circle vermarktet nicht nur seine IT-Produkte, sondern auch persönliche Geschichten, die dahinterstehen. Das Unternehmen suggeriert seinen Kund_innen, dass sie durch Offenheit und Transparenz an Produktentwicklungen und Diskussionen teil haben können. Das gelte besonders für Krisenzeiten. Das führt zu den ausgegebenen Slogans: “Secrets are Lies“, “Sharing is Caring“, “Pivacy is Theft“.
Und so funktioniert’s. Im Circle-Angebot ist u.a. das Projekt SeeChange, das Eamon Bailey zu Beginn des Romans vorstellt. Es besteht aus einer winzigen Kamera, die überall, auch versteckt, angebracht werden kann und Live-Bilder ins Internet sendet. Jede/r kann so viele Kameras installieren wie er/sie möchte und auch beliebig viele virtuellen Freunde dafür freischalten. Die mitgelieferte persönliche Geschichte: Man könne Freunde und Bekannte an den eigenen Erfahrungen teilnehmen lassen, z.B. einen gelähmten Freund, der auf diese Weise eine Bergtour virtuell miterleben könne. Innerhalb von zehn Jahren sollen zwei Milliarden dieser Kameras auf dem Globus verteilt werden. Das Programm werde darüber hinaus die Welt sicherer machen, denn wer – so die Argumentation – beginge schon eine Straftat, wenn er/sie damit rechnen müsse, dabei gefilmt zu werden.
Viele dieser Circle-Programme wurden von persönlichen Familiengeschichten inspiriert, so auch ChildTrack. Es beruht auf einem Chip, der in die Knochen von Kindern implantiert wird, damit ihre Eltern und – im Falle einer Kindesentführung – auch die Polizei sie jederzeit ausfindig machen könne.
Opposition und Widerstand: Wer rebelliert?
Maes Exfreund Mercer
Mercer lebt vom Verkauf von Kronleuchtern, die er in Einzelarbeit aus Geweihen fertigt. Er hat nach der Trennung den Kontakt zu Maes Eltern beibehalten, und Mae trifft ihn dort bei ihren gelegentlichen Besuchen. Als sie – aus ihrer Sicht in bester Absicht – seine Ware ins Internet stellt, zeigt er wenig Begeisterung. Später hilft Mercer Maes Eltern, Kameras abzudecken, die – als Gegenleistung für eine Multisklerose-Behandlung – permanent Informationen über deren Privatleben ins Internet sendeten. Dann aber entscheidet Mercer sich, „von der Bildfläche“ zu verschwinden. Als er mit seinem Auto unterwegs ist, nimmt er wahr, dass er von Drohnen verfolgt wird, und als Mae, die ihn mit Hilfe eines Circle-Programms ortete, über Lautsprecher Kontakt zu ihm aufnimmt, verreißt er absichtlich das Lenkrad und stürzt von einer Brücke in den Tod.
Die Senatorin Santos
Die US-Congressfrau hatte schon früh Bedenken gegen den Gigakonzern geäußert und eine Prüfung wegen Verdachts auf Monopolbildung beantragt. Gegen die Allmacht des Konzerns hatte sie jedoch keine Chance. Es war bei „The Circle“ gängige Praxis, allen politischen Widerstand geräuschlos auszuschalten, entweder durch Rückgriff auf brisante Informationen oder, wenn sie nichts hergaben, durch fabrizierte Fehlinformationen, die dann über die Netzwerke gestreut wurden. Dadurch wurden politische Karrieren zerstört, auch die der Senatorin.
Der mysteriöse Kalden
Kalden, der zunächst für Mae schwer fassbare Mitarbeiter, der sich später als einer „Weisen Männern“, Ty Gospodinov, enttarnt, vertraut sich Mae bei einem geheimen Treffen Mae an. Ihn treibe die Sorge um, dass schon bald „The Circle“ sich in ein totalitäres Regime verwandeln werde. Er plant, seine eigenes Werk zu zerstören und hofft auf ihre Mithilfe, denn allein könne er dies nicht schaffen. Mae gibt zunächst vor, ihn zu unterstützen, um ihn dann aber an die anderen Firmeneigner zu verraten.
Annie
Annie, Maes Freundin, war durch den kometenhaften Aufstieg Maes im Zugzwang und stellt sich, um ihre Position als Chefin zu behaupten, als Testperson für das „PastPerfect“-Programm zur Verfügung. Dabei kamen jedoch unliebsame Details über ihre Familiengeschichte zutage. Die psychische Belastung wird für Annie so groß, dass ihre Physis versagt und sie ins Koma fällt. Ihre Ärzte haben kein Wundermedikament, sie daraus herauszuholen. Damit ist auch sie aus dem Verkehr gezogen.
Guter Roman, schlechter Roman
Bild: Dave Eggers auf dem Brooklyn Book Festival (2007). Foto: David Shankbone
Das Buch stellt eine Welt dar, in der aufgrund der immer größeren Reichweite digitaler Technologien große IT-Konglomerate langsam das Monopol über alle Informationen gewinnen. Dadurch gewinnen sie nicht nur die Herrschaft über die Privatsphäre eines und einer Jeden, es gelingt ihnen auch, massiven Druck auf die demokratischen Institutionen auszuüben.
Die Reaktion auf die Inhalte des Romans war gespalten. Die Einschätzungen reichten von euphorischer Kritik bis zu totaler Ablehnung. Für Adrian Daub schrieb Eggers einen „zornigen Roman“: das 1984 fürs Internetzeitalter. Eggers präsentiere in seiner Dystopie eine „zornbebende Satire, die genau wisse, was richtig und was falsch sei.“ (Daub) George Orwell hatte in 1984 (1949) von einem Überwachungsstaat erzählt, in dem Menschen unterdrückt und ihrer Freiheit beraubt wurden. In Eggers aktueller Dystopie gäbe es keinen Staat, der Gefolgschaft durch totale Überwachung erzwänge: Die Bereitschaft, bei The Circle mitzumachen – und das sei das Neue – beruhe auf der freiwilligen Einwilligung jedes und jeder Einzelnen.
Graeme McMillan schrieb für Wired, eine Internet-Community. Für ihn hängt die Reaktion auf The Circle des McSweeney Gründers, Romanautors und gelegentlichen Drehbuchautors Dave Eggers von der eigenen Beziehung zu den neuen Technologien ab. Für Leser_innen, die eine Skepsis gegenüber dem Blogging, Tweeting, Tumbling und Facebooking hegen, möge der Circle wie ein Werk von brillanter Satire erscheinen, das für alle eine abschreckende mögliche Zukunft suggeriere. Für diejenigen unter den Leserinnen jedoch, die tatsächlich vertraut wären mit den Online-Communities – und das sind die Wired-LeserInnen – klänge The Circle mehr als undifferenziert.(mehr)
Neben den Inhalten stand auch die Handhabung der literarischen Form auf dem Prüfstand. Für Ijoma Mangold, für Die Zeit schreibend, ist The Circle ein denkbar schlechter Roman: Er erfülle bilderbuchmäßig die klassischen Kriterien für schlechte Romane: banale Sprache ohne ästhetischen Mehrwert, Vorhersehbarkeit der Handlung, klischeehafte Schwarz-Weiß-Kontraste von Gut und Böse, Dialoge, die didaktisch so aufgebaut seien wie ein Besinnungsaufsatz, und Figuren als Meinungsträger, reine Pappkameraden, die alles, was der Leser sich denken solle, „für die Doofen noch mal extra sagen.“ (Mangold)
War der Roman den Hype wert?
Dave Eggers entschied sich für das Format der literarischen Fiktion, um Fragen zu thematisieren, die non-fiktionale SchriftstellerInnen (Rebecca Solnit, Jaron Lanier, Evgeny Morosow etc.) zeitgleich in der Sachliteratur diskutierten. „Du bist nicht der Kunde dieser Konzerne. Du bist ihr Produkt!“ sagte Jaron Lanier, Internet-Pionier, Computerwissenschaftler und Musiker in Who Owns the Future (2023). Lanier nannte die digitalen Megakonzerne im Rückgriff auf die griechische Mythologie „Sirenenserver“ (siren servers). Ihr Deal: Die Lieferung privater Informationen gegen digitale Gratis-Dienste erweise sich jedoch als Bumerang.
Auch wenn Eggers das Potenzial des utopisch/dystopischen Roman nicht optimal ausgeschöpfte: Er hatte den Mut, sich in literarischer Weise einem Thema zu nähern, das auch in Zukunft unsere Debatten beherrschen wird. Die Frage: Inwieweit ist es sinnvoll, alles was digital machbar ist, anzuwenden und wann ist es geboten, eine „rote Linie“ nicht zu überschreiten.
Dass Eggers Buch so eingeschlagen hat, mag daran liegen, dass er die Handlung in nahe Zukunft verlegt, was umso irritierender ist, als sie bereits angefangen hatte. Manches gab es bereits, z.B. Kameras im öffentlichen Raum. Der Anschlag auf den Boston Marathon von 2013 hatte gezeigt, dass mithilfe von Kameras Verdächtige innerhalb weniger Tage identifiziert werden können. Eggers schaut jedoch darauf aus einer anderen Perspektive: In seinem Roman werden die Kameras gleichsam zu Katalysatoren des individuellen Gewissens.
Wir brauchen literarische Utopien und Dystopien, ganz gleich, wie im Nachhinein Kritiker_innen mit ihnen umgehen.
Literatur
Bartels, Gerrit. „Jaron Lanier und die Gratiskultur im Internet: Nichts darf umsonst sein.“ Der Tagesspiegel (12.05.2014).
Bartels, Gerrit. „Roman für analoge Anachronisten und Internet-Hasser“. Der Tagespiegel (21.08.2014).
Bosman, Julie and Claire Cain Miller. „A Novel Prompts a Conversation About How We Use Technology.“ The New York Times (9 Oct 2013).
Daub, Adrian. „Roman ‚The Circle‘: Gegen die Hipster aus dem Silicon Valley“. Die Zeit (27. Januar 2014).
Eggers, Dave. The Circle. Alfred A. Knopf, New York 2013.
Häntzschel, Jörg. „Der Gottkonzern – Dave Eggers‘ Roman ‚The Circle'“. Die Süddeutsche (19. Oktober 2013).
Mangold, Ijoma. „Ist ‚Der Circle‘ ein gutes Buch?“ Die Zeit (7. August 2014).
McMillan, Graeme. “Dave Eggers’ The Circle: What the Internet Looks Like if You Don’t Understand It“. Wired (10.11.13).
Weidermann, Volker. „Interview mit Dave Eggers: Wir brauchen eine neue Erklärung der Menschenrechte.“ Frankfurter Allgemeine (09.08.2014).
Wikipedia. „Dave Eggers“.
Wikipedia. „The Circle“.
Woody, Gaby. „Dave Eggers Interview. Dave Eggers explains how technology and privacy inspired The Circle, his new novel.“ The Telegraph (03. Oct. 2013).
Wunderlich, Dieter. „Dave Eggers: Der Circle“.