Bob Dylan mit Joan Baez während des “March on Washington for Jobs and Freedom“ (August 28, 1963)
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Seit Jahren galt Bob Dylan als Anwärter auf eine der höchsten literarischen Auszeichnungen: den Nobelpreis für Literatur. 2016 hat er sie erhalten. Dylan ist eine Song-Legende: Songs wie „Blowin‘ in the Wind“ oder „Masters of War“ wurden zu Zeitgeist-Songs der sog. „Hippie-Generation.“ In der 115-jährigen Geschichte des Nobelpreises war Dylan der erste Songwriter, der im Bereich Literatur ausgezeichnet wurde: „… for having created new poetic expressions within the great American song tradition“, so die Pressemitteilung.
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Die Kontroverse ließ erwartungsgemäß nicht auf sich warten. Literarische AutorInnen und LiteraturkritikerInnen stritten darüber, ob Dylan der noble Literaturpreis gebühre. Besonders extrem äußerte sich Irvine Welsh, Autor von Trainspotting, der sich auf Twitter als Fan von Bob Dylan beschrieb: Die Entscheidung des Nobelkomitees sei eine unausgereifte Nostalgie alter Hippies. Im Zitat:
I’m a Dylan fan, but this is an ill conceived nostalgia award wrenched from the rancid prostates of senile, gibbering hippies.
Musik und Literatur sollten, so Welshs Folgerung oder Forderung, bei der Vergabe eines Nobelpreises für Literatur nicht vermischt werden.
Jahre zuvor hatte Norman Mailer, Kritiker der US amerikanischen Gesellschaft und immer präsent in der internationalen Literaturszene (Die Nackten und die Toten ), der auch bekanntermaßen Dylan als Songwriter schätzte, die Äußerung von sich gegeben: „If Dylan’s a poet, I’m a basketball player.“ (Reuters, Oct. 14, 2016)
Dem schwedischen Nobelpreiskomitee ging es nicht darum, Bob Dylan als Lyriker (poet) zu ehren, sondern ihn für seine poetische Leistungen im Rahmen der „Amerikanischen Liedtradition“ (The Great American Song Tradition) zu würdigen. Viele KritikerInnen taten sich mit der Preisverleihung schwer. Für sie war offenbar Musik als genuines Umfeld für die Gestaltung von Lyrik befremdlich. Lyrik und Musik waren jedoch einst ein Paar.
2. Alle Lyrik begann als Lied
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Der im Englischen geläufige Begriff für Songtexte (lyrics) verweist auf die einstige Verbundenheit. Die Lyra war in der Antike ein Saiteninstrument, zu dem Texte gesprochen oder gesungen wurden. Im 16. Jahrhundert trennten sich jedoch die Wege. Eine entscheidende Rolle spielte dabei längerfristig die Erfindung des Buchdrucks, in dessen Folge die Lyrik – als Poesie – eine innige Verbindung mit dem gedruckten Papier einging. Matthew Zapruder, Autor zweier Gedichtbände schildert in einem Artikel der Boston Review die gegenwärtige Situation: Heute sei das Umfeld von Lyrik „die Stille des gedruckten Wortes“, wohingegen lyrics immer schon im Rahmen absichtlicher musikalischer Informationen stattfänden. (Zapruder)
3. Zur „Great American Song Tradition“
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Wann ist ein Song mächtig genug, um in die „Great American Song Tradition“ aufgenommen zu werden? Wer entscheidet es wie? Die Vorstellungen von Fans, Kritikern und Theoretikern gehen auseinander. Entscheidend ist das Umfeld des Populären, aber da fängt es schon an. Woran misst sich Popularität. Familie, Arbeitskollegen, eine bestimmte Region, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, Mehrgenerationenbeliebtheit, nationale Anerkennung? Eine einzige „Great American Song Tradition“ als eines festen Korpus von gesamtgesellschaftlich anerkannten Liedern, gibt es nicht. Wohl aber gibt es einzelne Subströmungen, innerhalb derer sich Formen, Strukturen und Stile herausbildelt haben. Entstanden in unterschiedlichen Epochen der US-amerikanischen Geschichte sind sie in unterschiedlichen Lebenssituationen entstanden und wurden von unterschiedlichen Gruppen getragen. Am Beispiel von Songs mit einer kritischen Haltung zur Gesellschaft
„Work and pray, live on hay, You’ll get pie in the sky when you die“: Das ist eine Zeile aus „The Preacher and the Slave“ aus einem Song von Joe Hill (1879-1915), eines US-amerikanischen Wanderarbeiters (Hobo), Arbeiterführers, Gewerkschaftsaktivisten, Sängers und Liedermachers. Hill schrieb Songs gesellschaftstransformierendes Potential zu. Er war der festen Überzeugung dass man auch die bestem Pamphlete, nur einmal lese: Songs hingegen höre man sich häufiger an. (“A pamphlet, no matter how good, is never read more than once. But a song is learned by heart and repeated over and over.” (Gibbs M. Smith, Joe Hill, 1969) Stilistisches Merkmal seiner Songs waren Humor und Ironie. „The Preacher and the Slave“, sein populärster Song, ist eine Parodie auf ein zu seiner Zeit bekanntes Kirchenlied, in der er sich über religiöse Wohltäter und falsche Propheten lustig macht. Über die Parodie als Darstellungsmittel bringt der Song den Gegensatz zwischen dem Diskurs der Herrschenden und dem Diskurs von Nicht-Herrschenden zum Ausdruck.
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Als Pionier der modernen kritischen Songtradition US-Amerikas gilt Woody Guthrie (1912-1967), der in den 30er und 40er Jahren Musik-Genres popularisierte, deren Reichweite zuvor begrenzt waren. Songwriters wie Bob Dylan, Johnny Cash, Bruce Springsteen, Pete Seeger und andere haben Guthrie als großen Einfluss anerkannt. Viele seiner Lieder handeln von seinen Erfahrungen in der Dust Bowl Ära während der Großen Depression, als er mit vertriebenen Bauern von Oklahoma nach Kalifornien zog und ihre traditionellen Folk-und Blues-Songs kennenlernte, was ihn den Beinamen „Dust Bowl Troubadour“ einbrachte. Zu seinen bekanntesten Liedern gehört „This Land is your Land“, das zur inoffiziellen Nationalhymne der US wurde. Ursprünglich war der Song als Parodie auf Irving Berlins patriotisches “God Bless America“ gedacht. Es gab viele Copyrightklagen. Guthrie sah die Sache jedoch gelassen: „Dieses Lied ist in den USA für 28 Jahre urheberrechtlich geschützt unter der Siegelnummer 154085, und wer immer dabei erwischt wird, wie er’s ohne unsere Erlaubnis singt, wird ein gewaltig großer Freund von uns sein, weil das alles uns völlig egal ist …. Swingt dazu. Jodelt’s. Wir haben’s geschrieben, und mehr wollten wir nicht tun.“ (Notenheft von 1930). Der Song wurde bei der Amtseinführung Barack Obamas gespielt, aber auch von den ultrakonservativen Mitgliedern der Tea Party angestimmt, wenn sie sich zu ihren Versammlungen trafen.
Woody Guthrie setzte sich ein für Migranten, Gewerkschaften, nahm Stellung gegen den Faschismus. Beispiel ist „What are We Waiting On“ beginnt mit den Zeilen:
There’s a great and a bloody fight ‚round this whole world tonight
And the battle, the bombs and shrapnel reign
Hitler told the world around he would tear our union down
But our union’s gonna break them slavery chains
„There’s A Better World A-Comin“ enthält am prägnantesten Guthries Vision einer qualitativ besseren Welt. Die utopische Perspektive ist an menschliche Solidarität gebunden. Dem Gedanken eines liberalen Individualismus stellt er das Motto „vereint frei“ entgegen.
„Strange Fruit“ macht auf die Situation der Schwarzen aufmerksam. 1939 trug die schwarzamerikanische Sängerin Billie Holiday im Café Society in New York den von Abel Meeropol komponierten und getexteten Song vor: Sie sang von einer „sonderbaren Frucht“, die an Bäumen hänge. „Strange Fruit“ beginnt mit den Zeilen: „Southern trees bear strange fruit / Blood on the leaves and blood at the root / Black bodies swinging in the southern breeze“. Das Lied wurde zu einem Statement gegen die Lynchmorde in den amerikanischen Südstaaten. The Guardian schrieb: „Aktivisten für ein anti-Lynch Gesetz schickten Kopien an Kongressabgeordnete.“ Und Samuel Grafton von der New York Post kommentierte: „Sollte der Zorn der Ausgebeuteten jemals im Süden hoch genug schlagen, hat er jetzt seine Marseillaise.“ (Lynskey)
Pete Seeger (1919 – 2014) verkörperte wie kaum ein anderer die Ideale der kritischen amerikanischen Song-Tradition: Kommunikation, Unterhaltung, Sozialkommentar, historische Kontinuität. „Where Have all the Flowers Gone“, geschrieben 1955 mit Joe Hickerson, ist eines der bekanntesten Antikriegslieder. Anfang der 60er Jahre sang ihn Marlene Dietrich, Oscar-nominierte Schauspielerin, die zwischenzeitlich die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, zuerst in französischer Sprache („Qui peut dire ou vont les fleurs“) und kurze Zeit später auf Deutsch. Anläßlich des Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit sang Joan Baez den Song vor 300.000 ZuhörerInnen. Ihre Wirkung verdankt die Friedensbotschaft inbesondere auch ihrer Form: Sie hat die Struktur eines Kettenliedes: Jede neue Strophe beginnt mit dem Schlussgedanken der vorausgegangenen Strophe. Der Endgedanke der letzten Strophe führt zum Anfangsgedanken zurück.
Thema in Pete Seegers Songs ist der Kampf um Gerechtigkeit; Aspekte: die Bürgerrechtsbewegung, der Widerstand gegen den Faschismus und den McCarthyismus, die Kritik an den Kriegen in Vietnam und dem Nahen Osten. Seeger war, wie seie VorgängerInnen vom Veränderungspotential von Songs überzeugt:
Lieder sind lustige Sachen. Sie können Grenzen passieren. Können sich in Gefängnissen verbreiten. Sich durch harte Schalen bohren. Ich habe immer geglaubt, dass das richtige Lied im richtigen Moment Geschichte verändern kann. (Meine Übersetzung)
In den 60er Jahren führte Phil Ochs die Tradtion der Anti-Kriegslieder mit „I Ain’t Marching Anymore“ weiter. Ochs war leidenschaftlicher Kritiker des amerikanischen militärischen Industriekomplexes (the American military industrial complex) und schrieb den Song, als die amerikanische Beteiligung am Vietnam-Krieg immer deutlicher wurde. Im Mittelpunkt steht die Kunstfigur eines kriegsmüden Soldaten, der seit dem Krieg von 1812 in jedem der folgenden, von US-Amerika geführten Krieg dabei war. Der Chor: „Es sind immer die Alten, die uns in den Krieg führen und immer die Jungen, die fallen.“ Am Ende steht die Frage, ob der Preis eines möglichen militärischen Sieges nicht zu hoch sei:
It’s always the old to lead us to the war
It’s always the young to fall
Now look at all we’ve won with the sabre and the gun
Tell me is it worth it all
„I Ain’t Marching Anymore“ inspirierte Hunderte von jungen Männern, ihre Einberufungsunterlagen zu verbrennen. In einer Notiz zum Lied schrieb Phil Ochs, es sei ihm darum gegangen, die Grenze zwischen Pazifismus und Verrat auszuloten, die besten Qualitäten beider vereinend. (“This borders between pacifism and treason, combining the best qualities of both.“)
„The Pill“, geschrieben von einem Textteam (Lorene Allen, Don McHan, und T. D. Bayless) ist ein Song über weibliche Geburtenkontrolle. Es erzählt von einer Frau, die sich über ihren Mann ärgert, der sie Jahr für Jahr schwängert, jetzt aber glücklich ist, weil sie durch „die Pille“ eine Möglichkeit gefunden habe, über ihre reproduktiven Optionen selbst entscheiden zu können. Gesungen wurde der Song von oretta Lynn, der „Queen of Country Music“. Bereits 1960 hatte die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) die Antibabypille offiziell zugelassen. Im Kontext der Countrymusik wurde jedoch die offene Diskussion der Geburtenkontrolle ls riskantes Thema angesehen. Viele Radiosender wollten den Song nicht spielen. Außerhalb des Country-Genres fand der Song jedoch viel Beachtung. Letztendlich trug der Song dazu bei, weibliche Empfängnisverhütung ein Stückweit zu enttabutisieren und Frauen, die am dringendsten der Pille bedurften, nahezulegen, sich mehr Informationen zu suchen. 1972 aufgenommen und zunächst von ihrem Label zurückgehalten, wurde das Lied schließlich 1975 auf Loretta Lynns Album Back to Country veröffentlicht. Mit ihr hatte der Song eine Interpretin, die auch durch die eigene Biographie überzeugte. Sie selbst hatte sechs Kinder, drei von ihnen hatte sie in sehr jungen Jahren bekommen.
„Fight the Power“ wurde zum Symbol für den Kampf der SchwarzamerikanerInnen zu Beginn der 90er Jahre. Ende der 80er Jahre suchte amerikanische Regisseur Spike Lee für seinen Spielfilm Do the Right Thing (1989), in dem es um interstädtische Rassenspannungen ging, ein Titellied, gleichsam eine „Hymne“ (anthem), das oft missverstanden wurde. In „Fight the Power“ ginge es nicht um eine pauschale Mißachtung von Autorität, sondern um die Kritik am Amtsmißbrauch (abuse of power), so Chuck D auf der Public Enemy Website.
Zu vielen aktuellen Themen gibt es Songs, die den Zeitgeist widerspiegeln. In „Same Love“ (2013) des ursprünglich aus Seattle stammenden Duos Macklemore and Ryan Lewis geht es um Familienakzeptanz und Ehegleichheit für schwule und lesbische Paare. Der Titel wurde während der Kampagne zum Referendum 74 in Washington aufgenommen, dessen Ziel die Legalisierung der Homo-Ehe war.
4. Liedtexte, die sich als Gedichte lesen lassen
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Konventionelle Lyrik, die sich aus ihrem unattraktiven Dasein als gedruckte Seite herauswagt und musikalische Unterstützung sucht, kann nur gewinnen. Poetische Songs, die von vorhinein mit Blick auf ihr sinnstifendes musikalisches Ambiente geschrieben wurden, sind ohne musikalische Unterstützung als Informationsträger eher auf der Verliererseite. Dennoch gibt es viele Song-Texte, die sich auch unabhängig ihres musikalischen Hintergrundes als Lyrik lesen lassen und dabei wenig an Wirksamkeit verlieren. Viele Plattformen stellen mittlerweile Datenbanken für Songtexte bereit. Und Twitteranfragen bestätigen, dass Bedarf besteht, Texte nachzulesen.
5. Songs als komplexe kulturindustrielle poetische Ausdrucksformen
Klingt kompliziert. Ist es aber nicht.
Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass Song-Lyrics viel mit Lyrik gemeinsam haben. Die literarische Qualität eines Songs bestimmt aber nur teilweise, wie er beim Publikum ankommt. Viel an Wirkung geht vom musikalischen Umfeld und seinen beabsichtigten musikalischen Informationen aus. Songs, die im Gesamtpaket von Text, Musik und Performance ihr Publikum suchen, sind heute das Ergebnis komplexer technischer Verfahren. Am Beispiel der Mehrspurtechnik.
Das Mehrspurverfahren ermöglicht, Musik in separate Einzelvorgänge zu zerlegen und sie dann in einem abschließenden Mischvorgang wieder zusammen zu fügen. Damit lässt sich das musikalische Ereignis vom Akt des realen Musizierens abgetrennen. An die Stelle der Reproduktion einer musikalischen Momentaufnahme tritt das Montageprinzip. Man mag dies feiern oder beklagen. Für Song-LyrikerInnen tut sich jedoch da eine Chance auf. Sie sind nur selten perfekte MusikerInnen oder perfekte SängerInnen wie die Radiostars von damals. Algorithmen machen es jedoch möglich, die Tonqualität von Sängern und Sängerinnen zu korrigieren und kreativ zu optimieren: Mit entsprechenden Programmen lassen sich „falsche Töne“ finden und kaschieren. So gelingt es beispielsweise, die Höhe einer Note zum nächstmöglichen, korrekten Halbton (das nächste musikalische Intervall in der traditionellen, oktavenbasierten westlichen Tonmusik) zu korrigieren, so dass die Gesangsleistung eines Interpreten oder einer Interpreterin für die Ohren gefälliger wird. (Reiss). Mit geeigneten Musikprogrammen lassen sich ebenfalls musikalische Kontexte gestalten, die der Vorstellung der SongtexterInnen von einem passenden musikalischen Ambiente entgegenkommen, heißt Kompositionsdefizite ausgleichen und kaschieren. Wenn es ihnen dann auch noch gelingt, an einen sensiblen Produzenten zu geraten, der/die bereit ist, Amateurentwürfe professionell zu optimieren, ähnlich wie es bei den Dienstleistungen von Verlagen der Fall ist, werden die Songtexterinnen zu AutorInnen eines Endproduktes, das – je nach Güte und Verbreitung – ein Publikum überzeugt oder auch nicht überzeugt.
6. There’s a Crack in Everthing
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1992 veröffentlichte der kanadische Dichter und Sänger Leonard Cohen – wie er es nannte – eine Hymne (anthem) mit dem Titel „There’s a Crack in Everything“: Ein hoffnungsvolles Lied, geschrieben in einer turbulenten Zeit. Die Kernzeilen:
Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in.
Cohen kommentierte nicht gern seine Musik. In einer seiner seltenen Aussagen nahm er jedoch Stellung. Die Zukunft sei keine Entschuldigung für den Verzicht auf die eigene Verantwortung: Sie garantierte keine Perfektion:
Die Situation lässt keine vollkommene Lösung zu. Man kann Dinge nicht perfekt gestalten, weder in der Ehe, noch bei der Arbeit oder ähnlichem, weder in der Liebe zu Gott, noch in der Liebe zu Familie oder dem Land, in dem man lebt. Die Sache ist unvollkommen. (Interview 1992, The Future Radio Special, a CD released by Sony, meine Übersetzung)
Am Grundgedanken, der Kritik an der Perfektionsrhetorik (perfect offerings) auf der Basis der grundsätzlichen Unvollkommenheit menschlichen Handelns (the thing is imperfect) lässt sich nicht rütteln. Auch nicht an der Überzeugung, dass es „Risse“ (cracks) in allen Vollkommenheitsversprechen gibt, die man erkennen kann (where the light gets in). Und was – in den Cohenschen Sprachwahl – „die Glocken, die noch läuten können“ (the bells that still can ring) betrifft, hält der kritische Strang der amerikanischen Song-Tradition viele nützliche Konzepte, sowohl inhaltlicher wie auch formaler Art, bereit, auf die sich man zurückgreifen kann.
7. Varianten von gleichem künsterischen Wert
Schallplatten-Laden an der Hohen Straße, in der südlichen Dortmunder Innenstadt. |
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Für Buchhändler und VerlegerInnen mag die Preisverleihung des Literaturpreises an einen Musiker, der gleichzeitig auch erfolgreicher Textgestalter und Vortragender ist, enttäuschend gewesen sein. Sie brach mit bisherigen Konventionen. Das sollte aber kein Hindernis sein, Lyrik, die in diversen Entstehungs- und Präsentationszusammenhängen stattfindet, als gleichwertige, wenngleich unterschiedliche, Ausdrucksformen anzuerkennen. Die Vorurteile, die bisher der Unterscheidung zwischen Lyrik und Lyrics zugrundelagen, haben beiden Varianten einen Bärendienst erwiesen. Hierzu Zapruder:
Die Vorurteile, die solch einer weit verbreiteten Unterscheidung innewohnen, erweisen sowohl der Lyrik wie auch den Songs einen Bärendienst. Wenn wir an einem literarischen Standard festhalten, diesen Standard aber Liedtexten gewähren oder verweigern, machen wir den Wert eines künstlerischen Bestrebens an den oberflächlichsten Qualitäten von Sprache fest, solchen, die wirklich nebensächlich sind, wenn man den Wert eines Gedichtes im Kopf hat. (Meine Übersetzung)
Ein Song-Fan formulierte es so:
Meine Lyrik sind die Songtexte der Popmusik. Ein Plattenladen, das ist für mich auch eine Bibliothek, und bis heute hat mir niemand den Gedanken ausreden können, dass Popmusik dazu da ist, mir poetisch die Welt zu erklären – und ihre Unerklärbarkeit zu bannen. Mit diesem lyrischen Anspruch an Poptexte bin ich nicht allein. (Eric Pfeil)
Zitierte Literatur
Der Spiegel. “Nobelpreis Bob Dylan sagt Okay“. Der Spiegel (28.10.2016)
Beaudoin, Kate. “11 Lyrics That Actually Reshaped American Culture.“ Mic Network (June 17, 2015)
Canoy, Mark Ferdinand, Vida Lacano. “Pop Songs with Lyrics That Work as Poetry”. Pop Inquirer (April 17th, 2016) https://pop.inquirer.net/2016/04/16-pop-songs-with-lyrics-that-work-as-poetry/
Ernst, Martin. “Lyrics vs. Lyrik.“ Tagesspiegel.
Glodek, Matthias. “Kreative Verwendung der Aufnahmetechniken in der Popmusik“ Ruhruniversität Bochum.
Hilyer, Ezra. “100 poetic Songs“ Stray Poetry
Issario, Ben, Alexandra Alter and Sewell Chanoct. „Bob Dylan Wins Nobel Prize, Redefining Boundaries“. New York Times (Oct. 13, 2016)
Jones, Josh. „Bob Dylan Wins Nobel Prize in Literature for Creating ‚New Poetic Expressions within the Great American Song Tradition'“. Open Culture: Literature, Music (October 13th, 2016)
Mamiverse Team. ”11 Hip-Hop Lyrics that Read Like Poetry.” Mamiverse (15/04/2014)
Lynskey, Dorian. 33 Revolutions per Minute: A History of Protest Songs. Faber & Faber, 2011.
Pfeil, Eric. „Wie die Geschichten hinter der Musik uns begeistern“ Welt/Kultur.
Reiss, Joshua. “Digital killed the Radio Star“. Der Freitag (07.10.2016)
Scarriet. „The top one hundred popular Song Lyrics theat work as Poetry.“
Varian, Ethan. „Lyrics Are Popping Up Everywhere, And That’s Good News For Songwriters.“ American Songwriter (November 8, 2016)
Willander, Arne. „Die 100 besten Singer/Songwriteralben.“ Rolling Stone (29. August 2012)
Woodard, Rob. “Lyrics Poetry?“ The Guardian (Dec. 19, 2007)
Zapruder, Matthew. “Poetry on the Brink“. Boston Review (Dec. 6, 2012)