Geehrt für ihre Verdienste um die Kurzgeschichte
Alice Munro (b. 1931) , heute 82, hat den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhalten. Damit wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Nobelpreisverleihung für Literatur ein/e AutorIn für ihre Verdienste um die Kurzgeschichte geehrt, eines literarischen Genre, das bisher im Schatten des großen Bruders oder der großen Schwester des Roman stand. Hierzu der Stockholmer Jury-Sekretär Peter Englund: „She has taken an art form, the short story, which has tended to come a little bit in the shadow behind the novel, and she has cultivated it almost to perfection“. (Peter Englund zur Associated Press)
Diese Anerkennung für eine literarische Kurzform ist in sich schon eine Bemerkung wert.
Es war ein langer Weg für Alice Munro
Alice Munro ist die 13. Frau, die einen Nobelpreis für Literatur erhielt und die erste kanadische. Sie hat bisher 13 Bände mit Erzählungen publiziert, sowie einen Roman, der sich ebenfalls aus Erzählungen zusammensetzt. Ihre Geschichten galten zunächst als domestic, halt Geschichten einer Hausfrau mit Kleinstadthorizont. Ihre handwerklich-technische Perfektion brachte ihr dann aber schließlich auch internationale Lorbeeren ein. Bei den Buchmachern, z.B. Ladbrokes, hatte es andere aussichtsreiche Kandidaten gegeben, darunter den japanischen Autor Haruki Murakami, die US-Schriftstellerin Joyce Carol Oates, eine Vertraute von Munro, die bisweilen auch in ihren Namen twittert, oder den Ungarn Peter Nádas. Aber Alice Munro setzte sich durch.
Dass Alice Munro den Preis bekommen hat, sei, so kommentierte Sebastian Hammellehle in DER SPIEGEL , habe, anders als in den Jahren zuvor, nicht den Beigeschmack des politisch-strategischen Kalküls. Hier sei es nicht darum gegangen, eine moralische Haltung zu ehren oder die Literatur einer bislang sträflich vernachlässigten Weltregion aufzuwerten. Das Entscheidung für Munro sei ein Votum für eine große Schriftstellerin.
Der Nobelpreis für Literatur – so hatte es Alfred Nobel verfügt – solle von hohem literarischen Rang sein und dem Wohle der Menschheit dienen. Er ist mit umgerechnet 920.000 Euro (8 Millionen Kronen) dotiert. Der Preis wird jeweils am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, in Stockholm überreicht. Munro wird aufgrund ihrer fragilen körperlichen Verfassung nicht anwesend sein. Wer statt ihrer den Preis in Empfang nehmen wird, stets zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht fest.
Virtuosin der zeitgenössischen Kurzgeschichte
Was ist virtuos an der Virtuosin der zeitgenössischen Kurzgeschichte?
Geboren wurde Alice Munro in Wingham, Ontario, einem kleinen Ort in der kanadischen Provinz. Ihr Vater war Pelztierfarmer und ihre Mutter Lehrerin. Bereits als Teenager hatte sie zu schreiben begonnen. Ihre erste Erzählung veröffentlichte sie 1950 als Journalismusstudentin an der University of Western Ontario. Ihre Erzählungen erschienen zunächst in Zeitschriften wie The New Yorker, The Atlantic Monthly und Mademoiselle. In Kanada erhielt sie drei Mal den wichtigsten Literaturpreis, den Governor General’s Award . 2009 wurde ihr in London der Man Booker International Prize für ihr Gesamtwerk verliehen.
Verleger Jörg Bong vom S. Fischer Verlag attestierte im Interview am 11. Oktober 2013 anlässlich der Frankfurter Buchmesse dem Werk von Alice Munro „Größe, Weisheit, Tiefe und Bescheidenheit von einer einzigartigen Aura“. Das gehe dadurch, dass sie vom Kompliertesten ganz einfach erzähle. [1]
Aber was heißt das konkret? Wie schreibt man über Kompliziertes einfach? Und was ist das Komplizierte, das Munro in ihren Kurzgeschichten thematisiert?
Ihre Szenarien spielen weitgehend in Kleinstadtmilieus. Für Munro ist die Kleinstadt Kanadas Spiegelbild universeller Probleme. Da träfe vieles aufeinander: Soziale Konventionen und die Wünsche und Begierden der Betroffenen, sagte sie einmal in einem Interview. Das muss man erst mal so akzeptieren, wenn man der Nobelschriftstellerin auf die Spur kommen will.
Weniger problematisch und generell konsensfähiger scheinen ihre handwerklichen Talente zu sein. Ihre Figuren sind oft abgründig, unsentimental, und deren Schicksal ist weitgehend offen. Wie sich das liest, demonstriert Sasha Weiss in The Page Turner anhand eines Auszugs aus “Miles City, Montana”. [2]
In ihrer Jugend, sagte Munro einmal, wäre es ihr Plan gewesen, Romane zu schreiben, aber es kam nicht dazu. Und sie erklärte auch, weshalb:
I don’t really understand a novel. I don’t understand where the excitement is supposed to come in a novel, and I do in a story. There’s a kind of tension that if I’m getting a story right I can feel right away, and I don’t feel that when I try to write a novel. I kind of want a moment that’s explosive, and I want everything gathered into that. [via The New York Times]
Mit ihren Kurzgeschichten scheint sie jedoch die Idee des Kurz-Genre getroffen zu haben.
Munro in der Kritik
Der Mainstream feiert neben der handwerklichen Perfektion die lakonischen, unsentimentalen Kleinstadtgeschichten. Aber es gibt auch kritische Stimmen anlässlich der Nobelpreisverleihung. Sie werden jedoch im Nobelpreisrummel weniger wahrgenommen. Einer, der sich anlässlich der Nobelpreisverleihung kritisch äußerte, war Bret Easton Ellis. Er, selbst Profi, meinte, die Nobel-Preisträgerin werde überschätzt, und ihre Ehrung durch das Nobelpreiskomitee ein Witz. [3] Genauer äußerte er sich jedoch nicht, und daher wurde er von Ellis-Gegnern und Munro-Fans entsprechend gedisst. (Norm Macdonald Slams Bret Easton Ellis In Just 140 Characters)
Ist das Lebenswerk von Alice Munro überragend? Trägt es zum Wohle der Menschheitsgeschichte bei oder wird sie überschätzt? Diese Frage steht nun im Raum. Jonathan Franzen, ebenso Profi, verglich sie mit den größten Autoren der Literaturgeschichte: „Mit ihr kann es auf diesem Planeten allenfalls eine Handvoll Schriftsteller aufnehmen“, meinte er. Munro habe im Bereich der Kurzgeschichte Tschechow übertroffen – „Und der war nicht gerade ein Anfänger.“
Eine endgültige Antwort wird die Geschichte bringen. Hier eine Liste ihrer internet-zugänglichen Kurzgeschichten: Zum Einlesen (via OpenCulture).
“Voices” – (2013, Telegraph)
“A Red Dress—1946” (2012-13, Narrative—requires free sign-up)
“Amundsen” (2012, The New Yorker)
“Train” (2012, Harper’s)
“To Reach Japan” (2012, Narrative—requires free sign-up)
“Gravel” (2011, The New Yorker)
“Fiction” (2009, Daily Lit)
“Deep Holes” (2008, The New Yorker)
“Free Radicals” (2008, The New Yorker)
“Face” (2008, The New Yorker)
“Dimension” (2006, The New Yorker)
“Wenlock Edge” (2005, The New Yorker)
“The View from Castle Rock” (2005, The New Yorker)
“Passion” (2004, The New Yorker)
“Runaway” (2003, The New Yorker)
“The Bear Came Over the Mountain” (1999, The New Yorker)
“Boys and Girls” (1968)
Anmerkungen
[1] Christopher Schmidt: „Vom Kompliziertesten ganz einfach erzählen. Die deutschen Verleger der Nobelpreisträgerin Alice Munro hoffen auf eine Aufwertung der Short Story.“ Süddeutsche Zeitung 11. Oktober 2013, S. 14.
[2] Sasha Weiss, „Alice Munro wins the Nobel,“ The Pageturner, October 10, 2013
[3] (http://www.theguardian.com/books/2013/oct/14/bret-easton-ellis-alice-munro-twitter?CMP=twt_fd).