Saul Williams ist oft als „Poet, Rapper, Sänger, Songwriter, Musiker, Schriftsteller, Schauspieler und Aktivist“ beschrieben worden: Er selbst sieht sich als Künstler, der in viele Bereichen unterwegs ist.  Als „Dichterpreisträger (poet laureate) des Hip-Hop“ (CNN) bezeichnet, hat er eine Vielzahl von Arbeiten veröffentlicht. Er trat in über 30 Ländern auf und las in über 300 Universitäten mit Einladungen vom Weißen Haus, dem Sydney Opera House, dem Lincoln Center, dem Louvre, dem Getty Center, der Queen Elizabeth Hall und in unzähligen Dörfern und Townships, Gemeindezentren und Gefängnissen auf der ganzen Welt.

Wenn man ihn auf YouTube aufruft, kommt Williams meist sehr laut daher: als junger, wütender, dunkelhäutiger Mann, der seine Botschaft aufgeregt ins Mikrofon schreit. Das verstellt mitunter die Sicht auf die Texte, in denen viel provokantes Potential steckt. Hier liegt entsprechend der Schwerpunkt des Beitrags. Da die Texte oft für ein breiteres Publikum  spontan nicht zugänglich sind, werden bei den einzelnn Punkten Informationen bereitgestellt, die einen Zugang zu Williams‘ „Universum“ erleichtern.

Über Saul Williams

Saul Williams wurde 1972 in Newburgh, New York, geboren und wuchs dort auch auf. Newburgh hatte in den vorherigen 40 Jahren die höchste Mordrate, die höchste Kriminalitätsrate und Drogenhandelsrate in einem so kleinen Bundesstaat mit nur 30.000 Menschen. Sein Vater war da Pastor, seine Mutter Lehrerin. So lernte er beide Welten kennen: die Welt der Straße und die Welt der großen LehrerInnen.
Nach seinem Studium erhielt er 1994 einen BA (Bachelor of Arts) in Schauspiel und Philosophie vom Morehouse College in Atlanta, Georgia sowie – 1997 – einen MFA (Master of Fine Arts) in Schauspiel von der Tisch School of the Arts in New York. Gefragt, weshalb er sich entschloss, ins Ausland zu gehen, antwortete Williams so:

Ich entschied mich, nach Paris zu ziehen, weil ich eine 13-jährige Tochter hatte, von der ich wollte, dass sie die Art von Einsicht bekam, die dadurch entsteht, dass man sein Land von außen betrachtet und eine andere Art erlebt, die Welt zu sehen. Und weil mein erster Film, Slam, die Caméra d’or in Cannes gewonnen hatte und mein erstes Album anderthalb Jahre vor der Veröffentlichung in den Staaten in Frankreich veröffentlicht wurde, hatte ich eine gute Beziehung hauptsächlich in Frankreich und ganz Europa. („Spoken Word Artist Saul Williams Extended Interview on His New Album, “MartyrLoserKing”. Democracy Now (April 22, 2016)

Nach vier Jahren im Ausland kehrte Williams in die Vereinigten Staaten zurück.

Saul Williams
Offizielle Künstlerseite
Slam (film) – Wikipedia
Amethyst Rock Star (2001)
„Coded Language“: Lyrics
Saul Williams Revisits „Coded Language“ 15 Years Later“.

Sein Kunstbegriff

Williams versuchte, Poesie, Theater, Musik und Performance zu einer Einheit zu verbinden. Zunächst wollte er Rapper werden, entdeckte Hip Hop, fand aber gleichzeitig auch Gefallen an Shakespeare, den ihm die Schule nahebrachte. (In Julius Caesar spielte er den Mark Antony.) Was ihn an Shakespeare faszinierte, war, dass es in Sprache Bedeutungsschichten gab, die zeigten, dass man kreativ mit Sprache umgehen konnte. (Democracy Now (April 22, 2016)

Arbeiten (Auswahl)

Slam (1998)

Der Independent Film (Marc Levin mit Saul Williams und Sonja Sohn, 1998) erzählt die Geschichte eines jungen afroamerikanischen Mannes, dessen Talent für Poesie durch seinen sozialen Hintergrund eingeschränkt ist. Saul Williams stellt darin den Charakter des Ray Joshua dar, eines talentierten jungen MC aus „Dodge City“, einem Wohnprojekt. Er nutzt seine künstlerischen Talente dazu, mit der Armut und Verzweiflung in seiner Umgebung klar zu kommen. Der Film gewann den Grand Jury Prize auf dem Sundance Film Festival 1998.

Amethyst Rock Star (2001)
Das erste Studioalbum von Saul Williams, 2001 veröffentlicht. Es enthält u.a. den Track „Coded Language“ (Williams, Krust).

MartyrLoserKing (2016)
Williams fünftes Album. Titel seien für Williams „Absprungpunkte“ („jump-off points“), aus denen sich Geschichten entwickelten. Der Titel habe sich, so Williams, ergeben, als er in Paris hörte, wie ein Franzose den Namen Martin Luther King aussprach: Für ihn habe es geklungen wie „Martyr Loser King.“ Märtyrer seien Menschen, die ihr Leben in den Dienst der Menschheit stellen und dafür mit ihrem Leben bezahlen. So gesehen sei Martin Luther King ein „Martyr Loser King“ unter vielen gewesen.

In Williams Album geht es um einen Cyber-Hacker, der im ostafrikanischen Burundi lebt. Warum gerade Burundi? Hierzu Williams: „80 Prozent des Kobalt und Coltan, von dem unsere Technologie abhängt, kommen aus dieser Region. Die Geschichte um diese Minen und die Ausbeutung, die um diese Minen herum stattfindet, sind Dinge, über die man vermutlich nicht nachdenken will, wenn man ein Selfie macht.“ (Democracy Now)

MartyrLoserKing
Wikipedia
Auswahl der Tracks
„Think like they books say“: Lyrics
Coltan as Cotton.”: Lyrics 
„Burundi“: Lyrics

US(a.) (2015)

Nach vier Jahren im Ausland kehrte Williams in die Vereinigten Staaten zurück und war konfrontiert mit Gedanken über Rasse, Klasse, Geschlecht, Finanzen, Freiheit, Waffen, Superhelden und zweifelhaften PolitikerInnen. Er musste sich verhalten: Es war sein Land.

Seine Themen

1. Dunkelhäutig sein in Amerika („Black Stacey“)
Zum Titel: Stacey ist der zweite Vorname von Williams. Auszüge (übersetzt):

Ich habe früher Bleaching Creme benutzt … Ich habe davon geträumt, weiß zu sein und von dir beglückwünscht zu werden,
Aber das einzige glänzende schwarze Ding, das du mochtest, waren meine Schuhe …
Sie nannten mich „Black Stacey“
Ich war immer Black Stacey, in Polka Dots und Paisley …
Du dachtest, es würde mir nichts ausmachen, …
Ich konnte nie ich selbst sein, denn für mich selbst war ich immer ‚Black Stacey‘. „

Es gehe, so Saul Williams, nicht darum , „schwarz“ zu sein, sondern darum, „du selbst zu sein, egal, was andere in dir sehen.“

2. Das komplexe Thema von Sexualität und Geschlecht. („Think like they book say“)

Die entscheidende Textstelle hierzu findet sich im Album MartyrLoserKing. Da geht es um die Kunstfigur Neptune Frost. Neptune Frost ist intersexuell geboren, identifizierte sich als weiblich, aber ihre Familie beschloss, sie als Mann zu erziehen.

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3. Ressourcen und Ausbeutung („Coltan as Cotton“)

Die Titelfigur von MartyrLoserKing ist ein im ostafrikanischen Burundi lebender Cyber-Hacker, der aus den Teilen weggeworfener Desktops einen Supercomputer baut. Dabei spielt Coltan eine wesentliche Rolle. Coltan ist ein wertvolles Mineral, ähnlich wie Titan, Aluminium, Gold, Silber, Nickel, Eisen, die an der Börse notiert sind. Coltan ist in Smartphones und Laptops zu finden. Seit Jahrhunderten sei die Plünderung Afrikas um kostbare Ressourcen, so Williams, der Ursprung von Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus.

4. Hacking als Störung 

Für Williams heißt Hacken: Dinge hinterfragen. In einem Interview mit Chris Garrand spricht Williams von mehreren Wegen zu bürgerschaftlichem Bewusstsein und Teilhabe. Da ist auf der einen Seite der bekannte Weg, Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen, der lange Weg über Wahlen und Ämter, aber es gebe auch Abkürzungen, die Chelsea Manning. Edward Snowden oder Aaron Schwartz praktiziert hätten. Davon spreche er, wenn er von Hacking rede, über Störungen des normalen Ablaufs, die Informationen freisetzten und Transparenz erzwängen. (Saul Williams (interview with Chris Garrard)

5. Afrofuturismus

Afrofuturismus bezeichnet eine literarische und kulturelle Ästhetik, die Elemente aus Science-Fiction, Fantasy, Afrozentrizität und magischem Realismus mit nicht westlichen Kosmologien kombiniert. In Musik, Literatur und Comics entwickelten seit den 1990er Jahren Künstler und Künstlerinnen utopische Welten, die Bildern von einer weißen Zukunft die Möglichkeit einer nicht-weißen Zukunft entgegensetzten. Die Titelfigur von MartyrLoserKing ist ein Beispiel.

Fazit

„Poesie ist eine radikal re-humanisierende Kraft,“ sagte Tracy K. Smith, U.S. Poet Laureate (Washington Post), denn sie sei eine der wenigen allgemein zugänglichen Sprachen, die uns dafür belohne, Dinge in ihrer Wirklichkeit und Komplexität zu benennen.

Die Texte von Williams sind in ihrer „Wirklichkeit“ sehr komplex. Oft erscheinen sie als „stream of consciousness“-Texte, scheinbar ungeordnete Folgen von Bewusstseinsinhalten. Bei näherem
Zusehen erkennt man jedoch einen Plan. Es lohnt sich reinzuhören, besonders auch vor dem Hintergrund
eines digitalen Aktivismus.

 

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