Den internationalen Durchbruch erlangte Arundhati Roy mit ihrem Debütroman Der Gott der kleinen Dinge (The God of Small Things), für den sie 1997 den Booker Prize erhielt. In den darauffolgenden  Dekaden widmete sich die Aktivistin ihrem humanitären Engagement – so nahm sie in non-fiktionalen Beiträgen u.a. Stellung zur politischen Ausgrenzung in ihrem Land, der atomaren Aufrüstung Indiens und dem Hindu-Nationalismus. Nach einer langen fiktionalen Pause veröffentlichte Roy in 2017 ihren zweiter Roman. Das Ministerium des äußersten Glücks (The Ministry of Utmost Happiness) stand auf der Longlist des Man Booker Prize 2017. Ihr zweiter Roman erhielt viel Zuspruch, aber es gab auch kritische Stimmen, auch unter denjenigen, die sie aufgrund ihrer bisherigen Arbeiten schätzten. So sagte z.B. in einer Buchrezension Frost At Midnite (aka Jayasree Bhargavan)

Die vielen, vielen Charaktere in Das Ministerium des äußersten Glücks waren für mich wie ein Zirkus. Ich wusste nicht, an wen ich mich halten und wen ich hassen sollte. Der Gott der kleinen Dinge war ein klares und lebendiges 30-teiliges Puzzle mit begrenzten Charakteren, einer stichhaltigen Handlung und (einer übersichtlichen) Art des Erzählens. Mit dem Ministerium für äußerstes Glück scheint uns Arundhati Roy ein Puzzle mit 3000 Stücken gegeben zu haben, und das in Schwarz-Weiß.

Arundhati Roy, Das Ministerium des äußersten Glücks
Aus dem Englischen von Anette Grube (2017)
Buchkritiken (Auswahl)
Gabriele von Arnim. „Das wahre Leben spielt auf dem Friedhof“. Deutschlandfunk Kultur(14.08.2017)
Anne Haeming. „Willkommen in der Glücksrepublik“ Spiegel Online (11.08.2017)
„Erst beim dritten Anlauf findet der Roman auf die Füße“. Süddeutsche (13. August 2017)

Hier setzt der Blog-Beitrag an.

Zu Arundhati Roy
Arundhati Roy ist 1961 geboren. Als sie zwei war, ließen sich ihre Eltern scheiden. Sie wuchs bei ihrer Mutter, einer Aktivistin für Frauenrechte, und ihrem Bruder in Kerala auf. Seit der Veröffentlung ihres Debüt-Romans, Der Gott der kleinen Dinge (The God of Small Things) ist sie aus der Weltliteratur der Gegenwart nicht mehr wegzudenken.

Für Arundhati Roy ist Indien ein Land, das in mehreren Jahrhunderten gleichzeitig lebt. In den siebziger Jahren sei Indien eine revolutionäre Gesellschaft gewesen: Grundlegende Fragen seien damals  angesprochen worden, z.B. die Vertreibung vom Land. Und auch die Naxalite-Bewegung. Heute sei dieses Klima des Aufbruchs zerstört. („Gespräch mit Natza Farré)

„Ich wollte ein Buch schreiben, das wie eine Stadt ist“: Zum Roman

Deckblatt
Auf dem Deckblatt des Romans ist der Titel,
Das Ministerium des äußersten Glücks, auf einem Grabstein geschrieben.

Das Setting
ein Jannath Guesthouse auf einem Friedhof, von der Hauptfigur des Romans, Anjuman, betrieben.

Glossar
Haveli
ein traditionelles Stadthaus oder Herrenhaus in Indien, Pakistan, Nepal und Bangladesch, normalerweise eines mit historischer und architektonischer Bedeutung.
Hijra
eine Bezeichnung, die auf Transfrauen und andere Geschlechtsidentitäten verweist.
Janath
Bedeutung Paradies/Himmel. Normalerweise ein gutherziges Mädchen, das den besten Rat gibt. Sie kümmert sich um andere in kleinen Dingen.
Khwabgah
„Dream Palace“. Khwabgah war Kaiser Akbars privates Quartier. Dort hatte er eine Bibliothek, ein kleines Schlafzimmer und ein Badezimmer, luftige Veranden in den oberen Stockwerken und alles, was er brauchte, um sich ein kleines Paradies zu schaffen.

Zur Handlung
Der Roman beginnt mit der Geschichte von Anjum, die als Aftab geboren wurde, ein Kind, das bei der Geburt sowohl mit männlichen als auch weiblichen Merkmalen ausgestattet war. Ihre Eltern, Mulaqat Ali und Zainab, sind zunächst erfreut über die Geburt ihres ersten Sohnes, nehmen sie mit nach Hause und ziehen sie als Junge auf bis sich Anjuman im Alter von zehn Jahren als Transgender herausstellte. Ihren weiblichen Instinkten folgend zieht es sie zu einer der Prostituierten von Khwabgah hin, und sie lebt dort als Frau.
Eines Tages wird Anjuman auf einen Friedhof in Old Delhi fast Opfer einer hinduistischen Repressalie gegen Muslime für einen Angriff auf Hindu-Pilger. Sie kann jedoch fliehen. Später betreibt sie dort ein Gästehaus und sammelt um sich herum die Verlorenen, die Gebrochenen und die Ausgestoßenen. Am Ende des Romans finden alle Charaktere Ruhe und Glück in der Gemeinschaft miteinander.

Hauptcharaktere
Jeder und jede
hat seine oder ihre eigene Geschichte.

Anjum
Sie war früher Aftab, jetzt betreibt sie ein Gästehaus auf einem Friedhof in Old Delhi. Dort treffen sich die Verlorenen, die Gebrochenen und die Ausgestoßenen.

Timo
Sie ist Architektin, halb Dalit. Obwohl sie von drei Männern geliebt wird, lebt sie in einem „Land ihrer eigenen Haut“. Als Timo ein verlassenes Baby als ihr eigenes beansprucht, verbindet sich ihr Schicksal mit dem von Anjum.

Naga
ein radikaler Student, der sich zu einem erfolgreichen Journalisten entwickelt, der über die Situation in Kaschmir berichtet.

Musa
ein ruhiger und einfühlsamer Mann, der sich durch die Umstände gezwungen sieht, auf die Situation in Kaschmir zu reagieren. Tilos Freundschaft mit Musa führt sie tief in die Kaschmir-Krise.

Die beiden Jebeen Kinder
Das erste Kind, in Srinagar (Kashmir) geboren, wurde auf dem überfüllten Friedhof der Märtyrer begraben; das zweite fand man um Mitternacht, verlassen auf einem Betonweg im Herzen Neu-Delhis.

Fazit
„Kein (indischer, zeitgenössischer) Autor, den Sie kennen,  wird jemals über das Kastensystem schreiben. Das Kastensystem ist der Motor, der das moderne Indien betreibt.“ Die ganze Gesellschaft sei hierarchisch strukturiert:  wer dies nicht verstehe, verstehe wenig von diesem Ort.“ Roys zweiter Roman versucht zu zeigen, wie die (indische) Gesellschaft durch diese Überzeugungen und Ideologien zerstört  wird.  Diejenigen, die von offizieller Seite als Bedrohung für traditionelle, politische, nationale, soziale und religiöse Normen eingeschätzt werden, flüchten und ziehen sich in einen Bereich zurück, in dem diese Regeln nicht existieren. Wie sich diese Gemeinschaft der gesellschaftlich Geschädigten weiterentwickeln wird, ob sich daraus ggf. die Keimzelle eines neuen, die indische Gesellschaft revolutionierenden Aktionismus entwickeln könnte: Das wird uns hoffentlich Arundhati Roy in einem weiteren Roman erzählen.

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