2018 gewann die nordirische Autorin Anna Burns den renommierten Man Booker Prize für Belletristik. Der Man Booker Preis gehört zu den renommiersten Literatur-Auszeichnungen weltweit. Er wird verliehen für in England veröffentlichte und in englischer Sprache verfasste Romane. Anna Burns ist die erste Ausgezeichnete, die aus Nordirland stammt. Sie erhielt den Preis für ihren Roman Milkman (Faber & Faber 2018), eine Geschichte, die in einer gespaltenen Gesellschaft spielt und vom Nordirland ihrer Kindheit inspiriert ist. In Milkman erzählt eine 18-jährige junge Frau im Nordirland des Bürgerkriegs über ihre Erfahrungen mit sexueller Nötigung und anderen Konflikten und sozialen Zwängen.

Zum Titel

Der Milchmann in Anna Burns‘ Milkman liefert keine Milch aus. „Milkman“ ist ein Deckname. In No Bones (2001), einem früheren Roman von Anna Burns, findet sich ein Hinweis auf eine mögliche Bedeutung. Dort stellte die IRA, die irische republikanische Armee, in Milchkisten Benzinbomben an Türen an jeder Straßenecke ab. (Catherine Toal)

Handlungsort

Der Roman spielt während zweier Monate während des Nordirlandkonflikts an einem nicht genannten, von militärischen Konflikten gezeichneten Ort. Dort, so die Erzählerin, sei es gefährlich, Stoff für das allgemeine Gerede (gossip) zu bieten, weil man dann ganz leicht in den Fokus unterschiedlicher politischer Gruppierungen gerät und Gefahr läuft, instrumentalisiert zu werden.

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Zur Autorin

Anna Burns, 1962 in Belfast geboren, wuchs in dem überwiegend katholisch und irisch-nationalistisch geprägten Ardoyne-Distrikt auf, einem Arbeiterviertel im Norden der nordirischen Hauptstadt. In einem Interview der Booker Prize Foundation sagte Burns, Milkman sei von ihren eigenen Erfahrungen inspiriert: Ich wuchs an einem Ort auf, der von Gewalt, Misstrauen und Paranoia geprägt war und in dem die Menschen versuchten, in dieser Welt so gut wie möglich zu überleben.“ Ihre Erfahrungen fanden bereits Eingang in ihren 2001 erschienenen Roman No Bones (2001), der das Aufwachsen eines acht-jährigen Mädchens in Belfast während der „Troubles“ thematisierte.

Kern der Buchidee zu Milkman sei ihre Vorstellung von einer Teenagerin gewesen, die eine Straße in einer geteilten Stadt entlang geht und im Gehen Ivanhoe liest, verriet Anna Burns Reportern. Ivanhoe des Briten Sir Walter Scott erschien 1819, spielt im 12. Jahrhundert und begründete den Mythos des Volkshelden Robin Hood.

Die Hauptcharaktere

Keiner der Charaktere hat einen bürgerlichen Namen, sie werden benannt als Schwestern, Schwager, Freund etc.

Die mittlere Schwester
Sie ist die Protagonistin und Erzählerin. Sie liebt Romane früherer Zeiten, geht gern nach ihrer Arbeit zu Fuß nach Hause und joggt gelegentlich. Zu ihrer Familie, First Sister und First Brother-in-Law, hat sie ein angespanntes Verhältnis.

Ihr fast-Freund
Sie treffen sich regelmäßig, sind aber kein festes Paar. Er schlug vor, sich zu trennen. Er ist kontinuierlich in ihrem Kopf.

Der geheimnisvolle „Milchmann“
Ein namenloser, wesentlich älterer, verheirateter Mann, der nur unter seinem Decknamen bekannt ist. Ihm eilt der Ruf voraus, dass er Sex mit Teenagern hatte und ein Akteur bei den Paramilitaries ist.

Der erste Schwager
Die Erzählerin mag ihn nicht. Er hatte die üble Angewohnheit, Dinge über das vermutliche Sexleben anderer zu verbreiten. Als sie 12 Jahre alt war, versuchte er, sich ihr anzunähern.

Der dritte Schwager
Er war ein Jahr älter als die Erzählerin. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit und mochte ihn, weil er sich nie am allgemeinen Gerede beteiligte und nie mit zweideutigem Spott daherkam.

Die erste Schwester
Sie hatte zuvor eine Liebe, aber er betrog sie, und die Beziehung endete. Daraufhin tat sie sich mit einem älteren Mann, dem ersten Schwager zusammen, den sie zwar nicht liebte, dennoch aber heiratete und bald von ihm schwanger wurde.

Die Story
Die Geschichte beginnt wie eine Kriminalstory: „Der Tag als Jemand McJemand mir eine Pistole an die Brust drückte, mich eine Katze nannte und drohte, mich zu erschießen, war derselbe Tag, an dem der Milchmann starb.“Der erste Schwager hatte offenbar das Gerücht verbreitet, dass sie angeblich eine Affäre mit dem mysteriösen „Milkman“ hatte. Sie versucht, es aufzuklären. Bei der ersten Begegnung bietet er ihr eine Mitfahrgelegenheit an. Sie las gerade, während sie zu Fuß ging, Ivanhoe. Er schien viel über sie zu wissen: Wer sie ist, wer ihr Vater und wer ihre Brüder. Sie lehnte jedoch das Angebot ab.
Ich wollte keine Mitfahrgelegenheit. Das war generell so. Ich ging gern spazieren – laufen und lesen, laufen und denken. Konkret wollte ich aber auch nicht zu diesem Mann ins Auto steigen. Ich wusste nicht, wie ich das sagen sollte, weil er nicht unhöflich war und er sich auswies. Er kannte meine Familie, die männlichen Mitglieder meiner Familie. Ich konnte nicht unhöflich sein, weil er nicht unhöflich war. Ich gehe, sagte ich, ich lese, und ich hielt das Buch hoch, als sollte Ivanhoe das Gehen erklären, die Notwendigkeit des Gehens. „Sie können im Auto lesen“, meinte er, und ich weiß nicht, wie ich darauf reagiert habe. Schließlich lachte er und sagte: „Keine Sorge. Machen Sie sich keine Gedanken. Viel Spaß mit Ihrem Buch.“ Er schloss die Autotür und fuhr davon.
Die nächste Begegnung mit dem mysteriösen Milchmann findet statt als sie bei den Stauseen joggt.“Später erschien er wieder – dieses Mal zu Fuß, als ich in den Parks beim unteren und oberen Wasserwerk lief. Ich war allein und las dieses Mal nicht, denn ich las nie, während ich lief. Und da war er wieder, tauchte aus dem Nichts auf, diesmal neben mir. Wir liefen zusammen, und es sah so aus, als würden wir immer zusammen laufen. Er kannte meine Arbeit – wo es war, was ich dort gemacht habe, die Stunden, die Tage und den Bus um acht Uhr, den ich jeden Morgen erwischt habe, so er nicht entführt wurde, um mich in die Stadt zu bringen. Und dass ich den Bus nie auf dem Rückweg nahm. Das stimmte. Jeden Wochentag, ob Regen oder Sonnenschein, Schießereien oder Bomben, Stillstand oder Krawalle, ging ich lieber zu Fuß nach Hause und las mein letztes Buch. Das war ein Buch aus dem 19. Jahrhundert, weil ich Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mochte. Denn ich mag das zwanzigste Jahrhundert nicht. Im Rückblick gehe ich jetzt davon aus, dass auch der Milchmann dies wusste.“
Später läuft sie noch einmal die Strecke mit ihrem dritten Schwager: Wir liefen den oberen Stausee entlang, sieben Tage nachdem ich dem Milchmann unterwegs war. … Ich hielt Ausschau nach einer Störung, obwohl ich diese Person nicht in meinem Kopf haben wollte. Ich wollte meinen Vielleicht-Freund in meinem Kopf haben, denn da war er mal, ganz behaglich, bis das Unbehagen über den Milchmann ihn da hinausgedrängt hatte.

Zum Thema
Dazu Anna Burns: „Was ich schreibe, hat im Wesentlichen damit zu tun, wie Macht sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen Sinne genutzt wird“. (Interview mit dem
Times Literary Supplement)

Fazit
Die Jurymitglieder des Booker Preises betonten den dunklen Humor, den Anna Burns einsetzte, um wichtige Themen anzusprechen.

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