1.
Poetry is All Around Us: Spuren

Blog_Poetry_PrintoutsFür das entdeckende Auge ist Lyrik allseits präsent, bisweilen an Orten, an denen man sie nicht vermutet, auf Müllentsorgungsfahrzeugen wie in Sydney/Australien oder den Spinttüren in einer Schule, wie in Biloxi/Mississippi . Die Academy of American Poets, die größte gemeinnützige Organisation zur Förderung zeitgenössischer Lyrik und Unterstützung amerikanischer DichterInnen, setzt sich mit ihren Programmen dafür ein, dass auf einer breiten Basis Lyrik die Würdigung zukommt, die ihrem Platz im kulturellem Leben einer Gesellschaft entspricht. Neben einem online recherchierbaren Lyrikarchiv (Browse Poems & Poets) entwickelt sie Programme zur Gestaltung des National Poetry Month, einem der größten Literaturfeste der Welt. 1996 eingeführt findet er jedes Jahr im April statt. Es beteiligen sich Schulen, Verlage, Bibliotheken, Buchhändler und Dichter. Poem-a-Day ist eine digitale Poesie-Serie mit über 200 neuen, bisher unveröffentlichten Gedichten talentierter Dichter und Dichterinnen jedes Jahr. An Wochentagen sind Gedichte von exklusiven Kommentaren von der PoetInnen begleitet. An Wochenenden stehen klassische Gedichte auf dem Plan. Im Jahr 2006 ins Leben gerufen, wird Poem-a-Day heute per E-Mail, Web und Social Media an LeserInnen kostenlos verteilt. Die Liste der Spuren lässt sich erweitern. Hier nur ein paar weitere Beispiele: Kommunen veranstalten Screenings, um Texte zu finden, die sich für die sog. Sidewalk-Poetry eignen, kurze Lyriktexte, die – in Asphalt gegossen – Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollen; dies besonders bei einem jungen Publikum mit dem bekannten Smartfone-Blick nach unten. Wer im Kurznachrichtenprogramm Twitter unterwegs ist und den Hashtag #Poetry aufruft, erhält täglich neue Hinweise auf Lyrik-Events.

Dennoch wird im Netz der vermeintliche „Tod der Poesie“ bejammert. Wie geht das zusammen? Daniel Zomparelli, Betreiber eines Blogs gleichen Namens, setzt in seinem Beitrag „Poetry Is Dead: What the hell happened? (Poetry is Dead, Jan.18, 2010) an den rückläufigen Verkaufszahlen für Print-Lyrikbände an und beklagt, dass der Lyrik auch in literarischen Zeitschriften und Populär-Magazinen wenig Raum zugestanden würde. Er sieht den Grund hierfür in der modernen schnelllebigen Welt, die auf Verkauf und Konsum fixiert sei und kaum Raum für die „meditative Qualität“ von Lyrik – was immer er darunter verstehen mag – lasse. Sein Fazit:

And this is where we stand: in a world where there is no rest. We are constantly moving, updating, adding, poking and working, so taking the time to meditate and reflect with a poem is more necessary than ever. Poetry is ready to dig itself out of its grave. It’s just a matter of how … and when. Either way, I am waiting for the zombie poetry to come back and seek revenge on the world that killed it.

Viele Kritiker und Kritikerinnen, die – ähnlich wie Zomparelli den Bedeutungsverlust vonLyrik beklagen, gehen vermutlich von einem Lyrik-Verständnis aus, das sich am Konzept der page poetry orientiert, der Lyrik als „gedruckter Seite“, als deren angemessene Rezeption die individuelle Betrachtung postuliert wird, will sagen: LeserInnen, die allein und in Muße versuchen, vermeintliche Botschaften eines lyrischen Textes zu entschlüsseln. Die Jammerer lassen dabei außer Acht, dass die Reduktion von Lyrik auf die printed page aus historischer Sicht Konsequenz eines technologischen Wandels war.

Mit der Erfindung des Buchdrucks und seiner Verbreitung ergab sich in der Folge die Möglichkeit, auch lyrische Texte zu vervielfältigen. Dies war jedoch mit einer Einengung des lyrischen Publikums verbunden. Als verschriftlichte Form war Lyrik nur bevorzugten Publikumsschichten zugänglich, die erstens über die Mittel verfügten, sich diese Lyrik zu beschaffen und zweitens über den Bildungsgrad verfügten, sie auch lesen zu können. Heute bahnt sich ein neuer Paradigmenwandel an, der – durch digitale Möglichkeiten unterstützt – Lyrik wieder breiter zugänglich. Unter diesem Aspekt stellen sich folgende Fragen: Welche kulturellen Kräfte haben dazu beigetragen? Welche Rolle spielt dabei der technologische Fortschritt? Wie hat die gesellschaftliche Dynamik die Wahl der Themen, Motive und Erscheinungsweisen der neuen Lyrik in den ersten Dekaden des 21. Jhs beeinflusst?

2.
Kulturtechnik und Kunstform: Lyrik als Geste

Blog_Poetry_SchnipselLyrik ist eine Jahrtausende alte Kulturtechnik und eine der ältesten Kunstformen der Menschheit. Sie gilt als die persönlichste aller literarischen Künste. Was macht ihre Singularität aus?

Als Kulturtechnik sind ihr im Laufe ihrer „westlichen“ Geschichte unterschiedliche Funktionen zugeschrieben worden. Neo-klassische Zuschreibungen, auf Horaz zurückgreifend, sehen das Wesentliche der Lyrik darin, dass sie sowohl unterhält als auch nützlich ist oder beides zugleich. In der Ars Poetica: heißt es: „Die Dichter wollen entweder erfreuen oder zugleich Erfreuliches und Nützliches für das Leben sagen.“ („Aut prodesse volunt aut delectare poetae., aut simul et iucunda et idonea dicere vitae, AP, Vers 333.). Neo-romantische Zuschreibungen legen den Hauptakzent auf die Gefühlskomponente. In Preface to Lyrical Ballads beschrieb William Wordsworth, im englischsprachigen Bereich gern zitierter Garant, den lyrischen Text als Ergebnis intensiver Gefühle, die sich später, in Ruhe, mit Gedanken vermischten:

(P)oetry is the spontaneous overflow of powerful feelings: it takes its origin from emotion recollected in tranquillity: the emotion is contemplated till, by a species of reaction, the tranquillity gradually disappears, and an emotion, kindred to that which was before the subject of contemplation, is gradually produced, and does itself actually exist in the mind. In this mood successful compositiongenerally begins, and in a mood similar to this it is carried on; but the emotion, of whatever kind, and in whatever degree, from various causes, is qualified by various pleasures, so that in describing any passions whatsoever, which are voluntarily described, the mind will, upon the whole, be in a state of enjoyment. (Zeile 26)

Die klassisch modernistische Lyrik versteckt sich privat gern hinter einer objektiven Fassade. Das Persönliche ist aus der lyrischen Oberfläche getilgt, um den Blick auf Allgemeines zu richten. Unpersönlichkeit und Objektivität scheinen entscheidend für die modernistische Poesie sein. Das mag mit ihrer Entwicklungsgeschichte zu tun zu haben. Modern(istische) Lyrik entwickelte sich aus einer Tradition der lyrischen Ausdrucks, die die Betonung auf persönliche Imagination, Emotionen und Erinnerungen des Dichters legte. Prominentes Beispiel für modernistische Lyrik im englischensprachigen Bereich ist T.S. Eliot mit The Waste Land (1922).

Wenn heute zur Lyrik programmatisch Stellung genommen wird, schwingen – in unterschiedlichen Dosierungen – alle (neo)klassischen Zuschreibungen mit . Ein Autor, der – bewusst oder uneingestanden – diese unterschiedlichen Zuschreibungen in einen Konzept vereint, ist Frank Bidart (geb. 1939). In “Writing Ellen West“ sinniert die Persona, das „lyrische Ich“, über das Wesen von Lyrik:

The gestures poems make are the same as the gestures of ritual injunction—curse; exorcism; prayer; underlying everything, perhaps, the attempt to make someone or something live again. Both poet and shaman make a model that stands for the whole. Substitution, symbolic substitution. The mind conceives that something lived, or might live. Implicit is the demand to understand. The memorial that is ward and warning. Without these ancient springs poems are merely more words. (Bidard, „Ellen West“ in: The Metaphysical Dog)

In diesem Statement werden Gedichte als Gesten verstanden, die etwas mit bekannten Ritualen gemein haben: dem Fluch, dem Exorzismus, dem Gebet. Als denkwürdige Ansprachen (memorials) kommt ihren eine doppelte Funktion zu: Sie verteidigen und warnen, sind ward and warning zugleich. Und sie haben Aufforderungscharakter (the demand to understand). Man darf sich vom dem Begriff des Schamanen, der in diesem Kontext gewöhnungsbedürftig ist, nicht verwirren lassen.

Wie sich heute zeitgenössische Lyrik, die Lyrik des 21. Jhs, als Kunstform jeweils gestaltet, hängt davon ab, inwieweit die gewählten sprachlichen Gestaltungsmittel vom jeweiligen Publikum erkannt und akzeptiert werden. Lyrik als Kunstform arbeitet mit sprachinhärenten Phänomen. Als Beispiel: Metaphern und Klangsymbolitik.

Die Alltagssprache ist voll von Metaphern. Viele nehmen wir, da eingewöhnt, nicht mehr wahr. David Brooks hat in den The Opinion Pages unter dem Titel „Poetry for Everyday Life“ (April 11, 2011) ein paar der Bekanntesten zusammengestellt. Wenn wir über zwischenmenschliche Beziehungen reden, benutzen wir gern Metaphern, die mit Gesundheit zu tun haben:

When talking about relationships, we often use health metaphors. A friend might be involved in a sick relationship. Another might have a healthy marriage.

Wenn wir über Argumente reden, benutzen wir gern Kriegs-Metaphern. Wenn wir über Zeit reden, Geld-Metaphern, etc.

When talking about argument, we use war metaphors. When talking about time, we often use money metaphors. But when talking about money, we rely on liquid metaphors. We dip into savings, sponge off friends or skim funds off the top. Even the job title stockbroker derives from the French word brocheur, the tavern worker who tapped the kegs of beer to get the liquidity flowing.

Eingewöhnte Metaphern sind poetisch abgenutzt. Für eine Lyrik, die Aufmerksamkeit für eine besondere Wahrnehmung, Stimmung, Sicht auf Dinge und Zusammenhänge wecken möchte, sind sie wenig hilfreich.

Ein anderes, auch in der Alltasgssprache vorhandenes, Gestaltungsmittel ist die Laut- und Klangsymbolik. Sie wirkt eher subrational. Die Phonästhetik (als Lehre vom sprachinhärenten Wohlklang (Euphonie) oder Missklang (Kakophonie) von bestimmten Wörtern, Ausdrücken und Sätzen) hat festgestellt, dass unterschiedliche Laute mit unterschiedlichen Emotionen gekoppelt sind. So soll z.B. der a-Laut eher Freude auszudrücken, wohingegen der o-Laut eher Angst und Erschrockenheit assoziiere. Die Wort- und Klangsymbolik spielt u.a. bei der Verwendung von Reimen eine Rolle. Durch den (partiellen) Gleichklang wird eine Beziehung zwischen Wörtern etabliert, die zur Aussagefunktion eines poetischen Texts beitragen kann.

3.
Festivals, Spoken Word-Wettstreite, Lyrik-Shows: Poesie als Event

Slam_poem_for_Mifflin_crowdBILD: Toussaint Morrison trägt 2007 ein Slam-Gedicht in Mifflin (USA), vor
SEITE:
Poetry Slam (Wikipedia)

In einem Beitrag in DIE ZEIT online schlägt Thomas Böhm vor: „Reißt die Lyrik aus den Büchern“. Ausgehend von der schwindenden Aufmerksamkeit, die heute gedruckten und gekauften Einzeleditionen von Lyrikern und Lyrikerinnen zukäme, schlägt er vor, Lyrik so zu inszenieren, wie bspw. auch Malerei inszeniert werde: als Event, sorgsam ausgewählt und aufgearbeitet mit Hintergrundinformationen für Betrachtende, die sie nach Wunsch abrufen können. Dies habe den Vorteil, dass sich das Publikum wieder Zeit für Lyrik nähme, sich wieder mit anderen InteressentInnen austausche. Diese Entwicklung hat längst stattgefunden. Es gibt weltweit gut inszenierte Lyrik-Ausstellungen, aber auch andere Events, die besonders ein junges Publikum anziehen, z.B. Poesie-Festivals.

Jährlich findet auf Governors Island das von der New York Poetry Society veranstaltete New Yorker Poesie-Festival statt. DichterInnen aus der Stadt und der Welt kommen an einem Sommertag zusammen, um ihre Arbeiten mit einem Publikum Lyrikinteressierter zu teilen. Neue Poeten und Poetinnen stellen ihre Arbeiten vor und feiern mit ihrem Publikum die Kunst der Poesie in einer schönen Kulisse. Dazu Nicholas Adamski, einer der Initiatoren des Festivals:

We thought there are music festivals every summer that are really fun, why not have a poetry festival outside in the sun where everyone can meet and mingle. Basically lay in the grass in a big and beautiful park and hear some really lovely poetry,

Und weiter:

Poets will take turns reading on three stages while people can walk around freely on the giant lawn before deciding to sit or stand to listen to a reading. In addition, there will be vendors from across the city selling poetry books and there will be around 10 arts installation for visitors to check out and even participate in. (ebd.)

Lyrik-Festivals finden jährlich weltweit statt. Ihre Zahl ist unüberschaubar. Auch die Vielfalt ist groß. Manchmal dauern sie nur einen Tag. Es gibt aber auch Lyrik-Feste, die bis zu 10 Tagen dauern wie das Ledbury Lyrik-Fest, das als das größte und beste Lyrik-Event in GB gilt. Das Ledbury Poesie-Fest wird – nach meiner Kenntnis – wie viele andere seiner Art von einer gemeinnützigen Organisation betrieben. Die eingeworbenen Mittel sollen laut Selbstdarstellung nicht nur in das umfangreiche Programm des 10 Tage dauernden Festivals eingehen, sondern auch für ganzjährige Aktivitäten genutzt werden: Ledbury nahestehende Lyriker und Lyrikerinnen arbeiten mit Schülern und Schülerinnenn im primaren und sekundaren Bereich; in Gemeinschaftsprogrammen gehen AutorInnen zu älteren Menschen, zu Patienten in Krankenhäusern und Hospizen, zu Menschen in abgelegenen ländlichen Räumen.

Alle bedeutenden Lyrik-Festivals haben eine Sektion, die der Spoken Poetry gewidmet ist.

Spoken Word Poetry hat sich in den letzten Dekaden zum Liebling eines jungen Publikums entwickelt. Spoken Poetry ist stage poetry: eine Lyrik, die ihren Ort auf der Bühne hat. In ihrer Variante als Slam Poetry ist sie auf Wettstreit ausgelegt. Das Procedere – z.B. über Applaus Sieger oder Siegerinnen zu ermitteln – mag nicht immer überzeugen. In jüngster Zeit hat die Slam-Kultur gewandelt. Heute (2015) geht es bei den anspruchsvolleren Wettbewerben nicht mehr nur um pure Wortakrobatik: Poetry SlammerInnen greifen zunehmend gesellschaftskritische Themen auf. Hier – nach Chris Leslie die 8 Brilliant Slam Poetry Performances on YouTube“ (Scottish Book Trust, 5 August 2015)

Ein anderes Beispiel für das Konzept der Lyrik als Event ist die Poetry Press Week, die alle zwei Jahre stattfindet. Pate stand die New Yorker Fashion Week. Die Lyrik-Variante ist ein Schaufenster der neusten poetischen Arbeiten sowohl etablierter wie aufstrebender Dichter und Dichterinnen vor einem Publikum von Presse, Verlagen und Öffentlichkeit. Statt der Models präsentieren Schauspieler und Schauspielerinnen neue Texte.

Lyrik als Event kommt bei konservativen Lyrik-Kritikern und -Kritikerinnen nicht gut an („Eventisierung“). Inwieweit es sich dabei um einen literarischen Snobismus handelt, der Lyrik wieder auf die printed page reduzieren möchte oder um eine ernstgemeinte Kritik, die von der Sorge über die Kommerzialisierung von Lyrik getragen ist, sei dahingestellt. Auf jeden Fall erhält durch das Konzept „Lyrik als Event“ einen öffentlichen Raum, in denen breitere Debatten um Sinn und Zweck von Lyrik als Kulturtechnik und Kunstform und ihre Förderung möglich sind. Dazu tragen die digitalen Medien mit ihrer Berichterstattung über Lyrik-Events wesentlich bei.

4.
Lyrik im digital-elektronischen Umfeld

Blog_Poetry_TwitterBILD: Screenshot eines Twitter-Aufrufs (#poetry)

Lyrik war im Laufe ihrer Jahrtausende alten Geschichte immer schon mit technologischen Neuerungen konfrontiert und reagierte darauf. Heute reagiert sie auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters. Was unter digitalem Aspekt mit Lyrik geschieht, lässt sich aus zwei Richtungen besprechen. Der erste Fokus geht von der Lyrik aus und versucht darzustellen, was sie durch ihre digitale Verfügbarkeit gewinnt. Der andere Fokus geht von den digitalen Funktionen (features) aus, die das Internet zur Verfügung stellt und fragt, inwieweit durch Übernahme/Assimilation neue Möglichkeiten neue Formen der Textgestaltung und neue Möglichkeiten der Rezeption entstanden sind.

Zum ersten Blickpunkt. Ein Teil der Lyrik, die in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen publiziert wird, ist digital verfügbar. Die digital-elektronische Umgebung (CD-ROM/DVD, Festplatte des Computers, Audio-Books, elektronische Reader, Websites, soziale Medien etc.) bietet ihr eine Plattform, breiter zur Kenntnis genommen zu werden. Lyrik im traditionellen Verständnis war nie ausschließlich auf die page poetry beschränkt. Die amerikanische Lyrik der 50er und 60er Jahren (Beat-Generation etc.) ist bekannt für ihre öffentlichen Lesungen, die mit dem Aufkommen der CD-ROMs/DVDs zwar breiter verfügbar wurden, dennoch aber begrenzt blieben auf ein Publikum, das von den Lesungen und ihrer Verfügbarkeit auf CD-ROMs/DVDs wusste. Heute genügt ein Mausklick, sie weltweit aufzurufen. Für junge Lyriker und Lyrikerinnen haben sich durch digitale Dienste neue Wege ergeben, ihre Arbeiten einem breiteren Publikum vorzustellen. Der Vorteil des self-publishing: Sie können dadurch den beschwerlichen und mitunter frustrierenden Weg über die Verlage umgehen. Verlage sind profit-orientierteUnternehmen und setzen bei einem schwächelnden Genre eher auf „Bewährtes“. Durch Eigenveröffentlichungen kann es jungen Lyrikerinnen und Lyrikern, die bisher noch keine einflussreiche Lobby haben, jedoch gut vernetzt sind (Facebook, Twitter, YouTube etc), gelingen, auf sich aufmerksam zu machen.

Ein Aspekt ist besonders hervorzuheben. Wer sich für Lyrik interessiert und weltoffen ist, kann sich über das Internet das ganze Panorama weltweiter Lyrik auf den Bildschirm zu holen. Man erfährt u.a. über afghanische Frauen, die ihr Leben riskierten, um über Lyrik ihre ihre Belange öffentlich zu machen oder von engagierten Lyrikerinnen und Lyrikern, die sich international zusammenfinden und in Kongressen diskutieren, wie es mit Mitteln der poetischen Sprachkunst gelingen könnte, ein breiteres Publikum für ein Interesse an den drängenden globalen Themen zu gewinnen: Frieden, soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit (sustainability) Ein Beispiel u.a. sind die 100 Thousand Poets for Change)

Die andere Blickrichtung geht von den digitalen Funktionen aus, die das Netz bereitstellt und diskutiert, wie sich der Bild von Lyrik verändert hat. Stichwort e-Poetry oder auch cyberpoetry, computer poems, hyperpoetry, videopoetry, um nur einige zu nennen. In einem Blogbeitrag mit dem Titel „What is e-poetry?“ („I love ePoetry“ (April 1, 2015) stellt Leonardo Flores einen Katalog von Erscheinungsweisen zusammen:

Generative poetry is produced by programming algorithms and drawing from corpora to create poetic lines. This is the oldest e-poetic genre and remains relevant today through e-literary genres like the bot.
Code poetry is written for a dual audience: computer and human readers.
Visual digital poetry arises from Visual, Concrete, and Lettrist poetic traditions and is extended by
Kinetic poetry, which uses the computer’s ability to display animation and changing information over time.
Multimedia poetry incorporates audio, video, images, text, and other modes of communication in its strategies.
Interactive poetry incorporates input from the reader in the e-poem’s expressive strategies.
Hypertext poetry uses nodes and links to structure the poem into spaces for the reader to explore.

Einige Varianten der e-Poetry, die Flores auflistet, sind interesssanter als andere. Algorithmenlyrik ist wenig überzeugend. Ein Beispiel: Unter dem Account @pentametron sucht sich ein Programm Tweets zusammen, die aus fünfhebigen Jamben bestehen und bringt sie mit Kurzinformationen zusammen, die sich am Ende reimen. Netter Zeitvertreib. Twitter-Lyrik: Was lässt sich in 140 Zeichen sagen?

Interessanter ist dagegen das, was Flores „Multimedia Poetry“ nennt. Da wird ein lyrischer Textu.a. mit Audio-Dateien und/oder Video-Präsentationen verlinkt, die entweder von den AutorInnen selbst eingesprochen sprechen oder von Schauspielern und Schauspielerinnen vorgtragen, die dem Text ihre Stimme leihen. Interessant ist auch die „Hypertext Poetry“, bei der ein Text, der sich durch ästhetische, kulturelle und/oder historische Distanz nicht spontan erschließt, mit Links unterlegt ist, die einen Kontext bereitstellt, der bei Bedarf abrufbar ist.

5.
Civic Poetry: Schnittpunkt von p
rivatem und öffentlichen Selbst

Claudia_Rankine_14BILD: Claudia Rankine

Der Begriff Civic Poetry ist einem Aufsatz von Alissa Quart entnommen, der am 21. Mai 2015 unter dem Titel „Don’t give up on poetry!“ in Salon erschien. Kernsätze ihres Beitrags: Civic poetry is not your precious, otherwordly poetry. It’s public, it’s political – about the hard stuff of life“. Die Beiträgerin nennt Themen, um die es in civic poetry geht: Geld, Kriminalität, die gender-Problematik, Unternehmen, die über ihre Stränge schlagen, Ungerechtigkeiten mit sozialem und „rassistem“ Hintergrund.

Civic poetry is public poetry. It is political poetry. It is about the hard stuff of life: money, crime, gender, corporate excess, racial injustice. It gives expression not just to our rites but also to our problems and even our values; these poems are not about rustic vacations. Civic poetry is ascending. It has asserted itself in recent years in the form of poetry slams and, of course, political rap, but now it is rising again on the page.

Alissa Quart nennt amerikanische Lyriker und Lyrikerinnen, die für sie den Aufstieg der civic poetry dokumentierten. 2014 erschien von Claudia Rankine ein Gedichtband Citizen: An American Lyric (Graywolf-Verlag): ein poetischer Text in Buchlänge. In Interviews erzählt Rankine gern über die Genese ihrer Arbeit. Anlass sei eine ihrer „weißen“ Freundinnen gewesen, die sie gefragt habe, wie sie ihre physische Präsenz in einer Umgebung empfände, in der Menschen mit einer anderen Hautfarbe befänden. Daraufhin habe sie Freunde und Bekannte gebeten, ihr zu schreiben, wie sie „Rassismus“ erlebten. In der Überarbeitung der vielen Anekdoten, die sie erhielt, ergab sich ein Text, der sich wie ein Tagebuch liest. Claudia Rakine nannte es einen Versuch, „Lyrik wieder in die Realität zurück zu holen.“ Die in Citizen thematisierten Aspekte umfassen das ganze Spektrum des sog. „alltäglichen Rassismus“: unbedacht geäußerte Bemerkungen, Blicke, implizite Vorurteile: alles Phänomene, die in einem Umfeld gedeihen, in dem explizite Diskriminierungen zwar gesetzlich geächtet sind und gerichtlich verfolgt werden können, dennoch aber unterschwellig gedeihen. (Zum Text) Wer sich für die Gestaltung interessiert, möge den Blick auf die Verwendung von Pronomen richten. Man erkennt ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ich und dem Du, der betrachtenden Person und dem oder der Anderen (the „Other“). Zur Einschätzung des Rankine-Bandes die Rezension in Publishers Weekly:

Accounts of racially charged interactions, insidious and flagrant, transpiring in private and in the public eye, distill the immediate emotional intensity of individual experience with tremendous precision while allowing ambiguity, ambivalence, contradiction, and exhaustion to remain in all their fraught complexity. . . . Once again Rankine inspires sympathy and outrage, but most of all a will to take a deep look at ourselves and our society. (Publishers Weekly, starred review)

Ein anderes Beispiel für Civic Poetry ist nach Quart der 2013 erschienene Band von Robin Clarke Lines the Quarry: „a stunning addition to the poetry of inequality.“ Clarke ist nicht nur Lyrikerin, sondern auch Aktivistin und Pädagogin in Pittsburgh, Pennsylvania. Eines ihrer bevorzugterGestaltungsmittel ist das list poem, ein Text, der katalogmäßig Fakten, Personengruppen, Ereignisse auflistet. Dazu Natalie Shapero in „Cold Comfort“ (Boston Review March 24, 2015):

Several segments of the book are direct enumerations of mining disasters and industrial accidents, rattled off with an encyclopedic quality that recalls a compulsive disorder or an anxiety-induced tic.

Hier ein Zitat. Es geht um Personengruppen, mit denen es die Sprecherin als Gewerkschafterin offenbar zu tun hatte:

917 assemblers & fabricators
150 athletes & sports competitors
1, 104 car mechanics
4 writers & authors
160 bakers
471 bartenders
1209 bus & truck mechanics.

Der Text, so Quart, sei nicht Produkt dichterischer Phantasie, sondern beruhe auf amtlich veröffentlichen Daten zu Kompensationsansprüchen, die 2006 von amtlicher Stelle veröffentlicht wurden.

Das Panorama der Civic Poetry wäre unzureichend, ohne ein Beispiel aus dem Bereich der anti-Kriegslyrik zu nennen. Als Soldat der US-Armee tat Brian Turner seinen Dienst in Bosnien und im Irak an vorderster Front, bevor er sich dem Schreiben zu wandte. Turner führt in seinen Texten nahe ans Kampfgeschehen heran, versucht zu vermitteln, wie Körper und Geist das Kampfgeschehen wahrnehmen und zieht daraus Schlüsse über Sinn und Zweck solcher Einsätze. Hier die Anfangszeilen des Titelgedichts von Here Bullet (Alice James Books, 2005)

If a body is what you want
then here is bone and gristle and flesh.
Here is the clavicle-snapped wish,
[…] here, Bullet,
here is where the world ends, every time.

2005 trug Brian Turner den Text am Bowdoin College vor, aufgezeichnet vom Dokumentarfilmer Eric Herter. Der vollständige Text findet sich auf Brian Turners Homepage.

Ein weiterer Text, der darstellt, wie sich das private mit dem öffentlichen Selbst vermischt, ist Idra Noveys „Mean­while the Water­melon Seed“ (aus Exit, Civilian, 2011). Die Sprecherin oder der Sprecher zieht Bilanz eines ganz gewöhnlichen Dienstags im Spätherbst:

On Tues­day, new pris­on­ers arrive.
In late fall, when leaves clog the gut­ters and their last col­ors go out like stars, new pris­on­ers arrive. […]
In the swel­ter­ing city, where a friend brings a water­melon and we spit its seeds onto the roof of the museum next door ….. and the world seems repairable and tem­porar­ily right, new pris­on­ers line up out­side a pair of doors, enter one at a time.

Die Dichter und Dichterinnen, aus deren Arbeiten Quart zitiert, haben bezeichnernderweise alle Primärerfahrungen im Umgang mit den Themen, die sie lyrisch aufgreifen. Sie tun dies ohne Pathos und appellative Gesten. Ob – was sie sich erhoffen – sich durch ihren Beitrag Wahrnehmungsfenster öffnen, hängt davon ab, inwieweit es ihnen gelingt, ein sensibles Publikum erreichen, das ihre Form der Darstellung überzeugt.

6.
Poesie und Propaganda: Instrumentalisierungen

InFlandersFieldsBILD: Nach Ansicht des Historikers Paul Fussell war „In Flanders Fields“ das populärste Gedicht seiner Zeit. Es sei vielfältig als beliebtes Motivationsinstrument verwendet worden, um Soldaten zu rekrutieren.

SEITE: Wikipedia

Im Juni 2015 erschien im New Yorker ein Beitrag von Robyn Creswell and Bernard Haykel mit dem Titel „Battle Lines – Want to understand the jihadis? Read their poetry.Es ging um Jihadi-Lyrik, im wesentlichen um die Lyrik der sog. „Poetess of the Islamic State“: Ahlam al-Nasr.

Ahlam al-Nasr (Wikipedia-Eintrag) ist eine in Syrien geborene junge Frau, heute (2015) geschätzt Mitte Zwanzig, die in ihren Kreisen als poet laureate des sog. Islamischen Staats gilt. Ahlam al-Nasr sei „mit dem Wörterbuch im Mund geboren“, wird ihre Mutter zitiert, ein Talent, das sie als Teenager nutzte, um Palästina zu unterstützen und später, als der Krieg in Syrien ausbrach, in den Dienst der Anti-Assad Rebellen und Demonstranten stellte. Ihr erster Gedichtband, The Blaze of Truth, wurde 2014 online veröffentlicht und zirkulierte schnell in affinen Netzen. Rezitationen ihrer Texte gab es a capella, da der IS instrumentelle Musik verbot. Die Autoren des New Yorker-Artikels weisen darauf hin, dass es einen Unterschied gäbe zwischen der Außenpräsentation des IS – spektakuläre Hinrichtungen – und eine auf ein internes Publikum ausgerichtete Kommunikation. Ahlam al-Nasr gehört zur zweiten Kategorie. Sie greife auf die lyrische Sprache der klassisch-arabischen Tradition zurück, um persönliche Erfahrungen darzustellen: Krieg und Leid:

The Blaze of Truth” consists of a hundred and seven poems in Arabic—elegies to mujahideen, laments for prisoners, victory odes, and short poems that were originally tweets. Almost all the poems are written in monorhyme—one rhyme for what is sometimes many dozens of lines of verse—and classical Arabic metres. (ebd.)

Ahlam al-Nasr schrieb Lobesgedichte auf Abu Bakr al-Baghdadi, den selbsternannten Kalifen von ISIS, und in einem dreißigseitigen Aufsatz verteidigt sie die Entscheidung der Führung, den jordanischen Piloten Moaz al-Kasasbeh lebendig zu verbrennen. In einem schriftlichen Bericht, der von ihrer Emigration handelt, beschreibt al-Nasr das Kalifat als islamistisches Paradies, einen Staat, dessen Herrscher nicht korrupt seien und deren Mitglieder sich nach frommen Normen verhielten: “In the caliphate, I saw women wearing the veil, everyone treating each other with virtue, and people closing up their shops at prayer times,” schrieb sie.

In einem Interview mit Aaron Winslowsagte Amiri Baraka, US-amerikanischer Lyriker, Dramatiker, Musikkritiker und Prosaautor (1934 – 2014):

Der Versuch, Kunst und Politik auseinanderzudividieren, ist bürgerliche Philosophie, die besagt, dass gute Dichtung, gute Kunst, nicht politisch sein kann, da aber durch das Wesen der Gesellschaft alles politisch ist, ist auch die Behauptung eines Künstlers oder eine Arbeit, nicht politisch zu sein, durch ebendiese diese Behauptung ein politischer Akt. (übersetzt)

Wo aber verläuft die „rote Linie“ zwischen einer genuinen Lyrik, die selbst da, wo sie sich als unpolitisch versteht, gerade dadurch – von einer anderen Ebene betrachtet – eine politische Aussage ist von einer Lyrik, die sich der Mittel poetischer Sprachkunst bedient, um für tagespolitische Kampagnen zu werben? Die Antwort fällt nicht leicht, da es auch in der Geschichte der „westlichen“ Lyrik zahlreiche Beispiel gibt, wie Lyrik für kriegerische Zwecke instrumentalisiert wurde. Vielleicht bringt die Frage nach heutigen intersubjektiven Bewertungskriterien ein Stück weiter.

7.
Good Poetry/Bad Poetry:
Die Frage nach intersubjektiven Bewertungsstandards

Coleridge_Poetry-QuotationBILD: Samuel Taylor Coleridge, englischer Dichter der Romantik, Kritiker und Philosoph (1772 – 1834) (Fotomontage)

Laut Aufzeichnungen seines Neffen Henry Nelson Coleridge (Table Talk, 1835) soll Samuel Taylor Coleridge, bekannter englischer Dichter der Romantik, folgende Gleichung aufgestellt haben: Prosa sei “Worte in ihrer besten Reihenfolge” und Lyrik „die besten Worte in ihrer besten Reihenfolge“. (Specimens of the Table Talk of the Late Samuel Taylor Coleridge. (1835) Diese Definitionen werfen in einem konkreten Zusammenhang mehr Fragen auf als sie beantworten.

In seinem Beitrag „The Functions of Poetry“ vergleicht Jan Schreiber die Situation von Lyrik-Bewertern und -Bewerterinnen mit der von Diamant-ExpertInnen. Jene wüssten sehr genau, wonach sie suchen müssten, um die Qualität eines Edelsteins zu begutachten. Obwohl sie den perfekten Diamanten nie gesehen haben, hätten sie ein ideales Bild von ihm im Kopf, was ihnen eine objektive Bewertung ermögliche. Der Grund: Die Kriterien seien konstant. Sie veränderten sich nicht:

(T)he diamond expert knows the criteria for excellence with great assurance; he can spot an exceptional gem quickly when it comes before him, and his criteria do not change. He may never find an ideal diamond, but he can tell you what it would look like. […] You do not hold a poem up against a crystalline paragon that has always existed in your mind (though you may recognize instantly that a given poem fails to achieve something a similar poem did superbly); instead you examine the new associations a poem has provided you with (assuming it has) and decide whether they expand your mind, your self, your equipment for dealing with the world.

Es gibt kein Idealbild eines allzeit gelungenen Gedichtes, konstant, nicht veränderbar. Bisweilen versuchen Kritiker und Kriterinnen, Negativbeispiele auszumachen, zZ.B. Seamus Cooney, der auf seiner Webseite „Bad Poetry Index“ darstellt, woran man aus seiner Sicht schlechte Lyrik erkenne: Schlechte Lyrik sei „schwach und wirkungslos und von geringem Interesse“. Sie sei das Ergebnis aus einer Mischung aus hochmütigem Ehrgeiz, humorlosem Selbstvertrauen und krasser Inkompetenz. (“the right combination of lofty ambition, humorless self-confidence, and crass incompetence….”). Die VerfasserInnen schlechter Lyrik seien sich oft ihrer Defizite nicht bewusst.

Die Indizien, die Seamus Cooney benennt (hochmütiger Ehrgeiz, humorloses Selbstvertrauen, krasse Inkompetenz), sind flüssige Bewertungsstandards wie auch ihre positiven Gegenstücke: Authentizität, Integrität und ungekünstelte Darstellung, die oft in Laienkommentaren als positive Bewertungskriterien genannt werden. Es geht um Haltungen, die sich in Lyrik offenbaren. Zwei zeitgenössische Beispiele mögen dies illustrieren.

In 2014 erregte die Vergabe des Titels einer poet laureate (preisgekrönte Dichterin) eines US-Bundesstaats mediale Aufmerksamkeit. Der Gouverneur von North Carolina, Gov. Pat McCrory, hatte nicht – wie in solchen Fällen üblich – die Meinung des N.C. Arts Council eingeholt, sondern sich in Eigenregie für seine Lieblingskandidatin entschieden. In der Presse wurde Valerie Macon von KritikerInnen zur Last gelegt, dass – wie immer ihre Begeisterung für Poesie sein mochte – sich in ihrer Lyrik Zeichen einer Haltung manifestierten, die nicht mit dem Wertekonsens der Vereinigten Staaten vereinbar seien. Nach kurzer Amtszeit trat die Preisträgerin auf Druck der Öffentlichkeit von ihrem Posten zurück.

Eine zweite Geschichte, die dokumentiert, dass es bei Lyrik nicht nur um poetische Wortgewandtheit ankommt, sondern um Haltungen. In der Westminster Abbey in London gibt es die sog. Poets‘ Corner, eine Dichterecke, in der englische oder englischsprachige Poeten begraben sind. Unlängst gab es einen Antrag, befürwortet u.a. vom Dean of Westminster, den britischen Lyriker Philip Larkin in den illustren Kreis seiner Vorgänger aufzunehmen. Dem Antragsteller war offenbar nicht bewusst, dass Larkin jenseits seines dichterischen Lebens Überzeugungen hegte, die aus heutiger Sicht – selbst historisch relativiert – fragwürdig sind: „Einwanderer (seien) Abschaum, Häftlinge Schweine (und) Gewerkschaften schmutzige Geldraffer.“ („Immigrants were scum; prisoners were swine; trade-unions were filthy moneygrubbers.“) Auch hier hat sich eine Widerstandsfraktion formiert. Die Entscheidung steht (2015) noch aus.

8.
Finding Poems and Poets: Wer
findet was wo?

SearchPoetry02Bei Kenntnis entsprechender Suchwege lässt sich (fast) alles finden, was an Lyrik im digitalen Raum öffentlich zugänglich ist, selbst poetische Darstellungen sehr spezifischer Themen wie die Überwindung einer Sucht (Ashley Hyder „Poem About Overcoming Addiction: Destined to fly April 15, 2015).

Wenn man weiß, was man sucht, gibt es viele Möglichkeiten, fündig zu werden. Da sind zunächst die bekannten Internet-Suchmaschinen. Sie sind dann zielführend, wenn man die Suche einschränkt. Wer sich – hier als Beispiel – für Rights-Poesie in englischer Sprache interessiert, sollte das entsprechend eingeben („Human Rights Poems“).

Viele gemeinnützige Literaturverbände bieten Lyrik-spezifische Suchmaschinen (poetry search engines) an, z.B. die amerikanische Poetry Foundation. Die Suchmaschine greift auf AutorInnen und/oder lyrische Texte zurück, die im Mitglieder- und Textverzeichnis gelistet sind. Mittlerweile gibt es im Netz eine Vielzahl von Suchmaschinen, mit denen man Gedichte und AutorInnen aufspüren kann.

Eine weitere Alternative ist, die Websites von Interessenorganisationen aufzurufen, die sich bestimmter Themen annehmen. Viele haben Links zu poetischen Texten, die man mit allgemeinen oder spezifischen Suchmaschinen nicht findet: z.B. Friedensgruppen, Gruppen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, Gruppen, die sich der Nachhaltigkeit (sustainability) verpflichtet fühlen, für Geschlechtergleichheit (Gender Equality) eintreten, etc..

9.
A Place for the Genuine: Lyrik zwischen Engagement und Kommerz

Poet-for-HireBILD: Poets for hire in Hay on Wye“.

Plato (428/427 v. Chr. – 348/347 v. Chr.) wollte Dichter aus seiner idealen Republik verbannen, weil sie – dargestellt an Homers Iliasangeblich Unwahrheiten zu Wahrheiten machten. Für den britischen Autor der Romantik Percy Bysshe Shelley (1792 – 1822) waren Dichter „die unbestätigten Gesetzgeber der Welt“ (“the unacknowledged legislators of the world”). Und W. H. Auden (1907 – 1973) stellte fest: „poetry makes nothing happen.” .

Lyrik setzt ich nicht unmittelbar in Aktionen um. Was sie aber kann, ist, ihr Publikum teilhaben zu lassen an das, was Menschen bewegt. So äußerte sich u.a. Juan Felipe Herrera – Dichter, Performer, Autor, Zeichner, Lehrer, Aktivist und 2015 als erster Chicano zum poet laureate der US ernannt. Für ihn sei Lyrik „eine der schönsten Möglichkeiten teilzuhaben.“ (Poetry is one of the most beautiful ways of participating“.) Sandra Cisneros, US-amerikanische Schriftstellerin und Lyrikerin mexikanischer Abstammung merkte an, Lyrik sei am lebendigsten an Orten, die durch Unterdrückung geprägt seien („Poetry is most alive in places like Ferguson and places of fear. Poetry comes out from places of oppression, sometimes in alternate venues.) Historisches Beispiel: 1972 veröffentlichte der südafrikanische James Matthews Cry Rage, eine Lyrik-Anthologie, die von der damaligen südafrikanischen Apartheid-Regierung verbannt wurde. Viele Dichter und Dichterinnen weltweit riskieren ihr Leben, um über ihre Poesie auf Mißstände aufmerksam zu machen. Dies trotz der Schlagzeilen, die über die Verfolgung von Dichtern und Dichterinnen um die Welt gehen. So wurde am 29. Januar 2014 Hashem Shaabani, ein arabisch-iranischen Dichter, in einem nicht-identifizierten iranischen Gefängnis hingerichtet. Der damalige Präsident (Rohani) hatte sein Plazet gegeben.

Vieles, was an Lyrik im Internet kursiert, mag dem einen oder der anderen nicht gefallen. Marianne Moore, eine amerikanische Dichterin der Moderne, die im vor-digitalen Zeitalter vieles an Lyrik las, was kursierte, davon an vielem nicht Gefallen fand, las dennoch weiter. Ihr Fazit fasste sie in einem Gedicht von 1967 zusammen:

I, too, dislike it.
Reading it, however, with a perfect
contempt for it, one discovers in
it, after all, a place for the genuine.

Marianne Moore, „Poetry“ (1967)

 

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